Mit Kay Kuntzes Inszenierung von Webers “Freischütz“ feiern die 60. Eutiner Festspiele auf der Open-Air-Bühne ihre umjubelte Eröffnung.

Eutin. Vor zwanzig Jahren hätten sie ihn gesteinigt. Schon nach den ersten Takten der schönen Ouvertüre zum "Freischütz" lässt dieser Regisseur in Eutin Krieg spielen. Max und sein finsterer Kumpan Kaspar robben mit ein paar anderen Soldaten über die Bühne. Die ist vollkommen kahl, nur ein paar mit rotem Outdoor-Teppich bezogene Podeste machen das Geröllfeld von einem Boden bespielbar. Einer der Soldaten fällt, zweimal müssen sie als Erschießungskommando an der Zivilbevölkerung Dienst tun.

Waldidyll? Hoch oben an vier unverkleideten Lichtmasten hängen vier imposante Hirschköpfe mit entsprechenden Geweihen (Bühne und Kostüme: Achim Römer). Über der Bühne ein Galeriegang für den Strippenzieher Samiel. Den Wald braucht man sich an diesem Ort nicht hinzuzudenken. Liegt die Eutiner Freilichtbühne doch an einem von Bäumen bestandenen Hügel.

In der Wolfsschlucht-Szene steht ein Kreuz in Flammen, die Verhöhner von einst umtanzen den von Gesichtern geplagten Max mit entblößtem (Kunststoff-)Gesäß und Samiel bellt als fast nackter schwarzer Mann seine knappen Sätze aus unsichtbaren Lautsprechern so teutonisch böse durchs Echogerät wie Till Lindemann, der Wort-Führer von Rammstein.

Zum großen Jäger-Halali in der klassischen Männerchor-Nummer "Was gleicht wohl auf Erden" hetzt ein zweibeiniges, barbusiges Reh mit aufgesetztem Wildkopf durch den Raum, derweil die Jäger singend ihre Flinten wichsen, ehe sie aufs Rehlein anlegen. Merke: Männer jagen, was ihnen vor die Flinte kommt, denn jagen ist geil. Wer Rehe schießt, erlegt auch Frauen.

Sie haben ihn nicht gesteinigt, sie haben ihn ziemlich gefeiert in Eutin, diesen Regisseur Kay Kuntze. Dabei wirkt seine Lesart der lokalen Inkunabel von Carl Maria von Weber, der 1786 in Eutin geboren wurde, ungefähr so ikonoklastisch wie Christoph Schlingensiefs "Parsifal" in Bayreuth, nur dass hier im Norden auf dem grünen Hügel dann doch alles ein paar Nummern kleiner vonstatten geht. Kuntzes "Freischütz", der am Sonnabend zur Eröffnung der 60. Opernsaison der Eutiner Festspiele auf der Seebühne Premiere feierte, tut einen Teufel, seine Konwitschny-Sehschule zu verleugnen. Bevor der erste Ton gesungen ist, hat die seelisch-lebensgeschichtliche Verortung des kriegsmüden Max weiträumig stattgefunden. Er wird gesungen vom Heldentenor Thomas Mohr, der mit seinem schütteren Haar und der massigen Gestalt ein paar Schlachten zu alt ist für die Rolle, doch seine Stimme ist sehr schön und konturiert. Dagegen wirkt sein Schwiegervater in spe, Oberförster Kuno, trotz Martin Gäblers kernigem Bariton allzu jugendlich.

Martina Welschenbach macht mit kessem Spiel und schmelzendem Sopran aus dem Ännchen einen liebreizenden Wirbelwind. Dagegen hat Julia Sukmanova als von allerlei bösen Vorahnungen gebeutelte Agathe keinen leichten Stand. Doch beide verfügen über die nötige stimmliche Strahlkraft, um den gefühlten halben Kilometer Luftlinie zwischen Bühne und oberen Rangplätzen zu überbrücken. Wie Peter Konwitschny liest auch Kuntze Partitur und Libretto besonders hellhörig auf das Gefüge zwischen den Geschlechtern und den Generationen ab. Auch er arbeitet mit Zeichen, Politik, Witz. Seine Sicht gewinnt ihre Glaubwürdigkeit daraus, dass er minutiös an der Musik entlang erzählt.

Kuntze lässt die männerbündlerisch-homoerotische Komponente der trügerischen Soldatenfreundschaft zwischen Max und Kaspar anklingen. Und wie in Konwitschny steckt auch in Kuntze ein brechtscher Aufklärer. Wenn der Eremit kurz vor dem Finale sein Wort zugunsten von Max ergreift, dann steht der Bass Hartmut Bauer mitten im Publikum und richtet seine wohltönende Rede an die Akteure auf der Bühne, als wäre er einer von uns.

Webers süffige, duftige Musik steigt aus einem aus Naturstein gemauerten Orchestergraben auf, in dem sich die Hamburger Symphoniker nach der Pause unter einer grünen Plane unsichtbar machen - nicht des Regens wegen, der am Premierenabend nicht fiel; wohl um mit dem Glimmen der Pultleuchten den Lichterzauber auf der Bühne nicht zu stören. Das Orchester unter Ulrich Windfuhr klang nach der Pause dann besser als zuvor, wo Intonation und Pünktlichkeit etwas gelitten hatten. Windfuhr meisterte die Koordination zwischen Orchester, Chor und Sängern, nur ausgerechnet der Jägerchor sang zur schmissigen Hornbegleitung ungefähr ein Achtel versetzt.

Eutin beginnt seine Geburtstagssaison mit bestem Regiemusiktheater.