Paul Austers Roman “Unsichtbar“ handelt von Liebe, Wahrheit und Lüge. Er erzählt er von einer Amour fou zwischen New York und Paris in den 60ern.

Bei Paul Auster teilt sich die Meinung der Leserschaft. Die einen halten ihn für einen Blender, prätentiös und verkopft. Die anderen sind Fans. Süchtig nach dem Auster-Universum, in dem nie ganz klar ist, wo der eigentliche Plot anfängt und die Meta-Ebene aufhört; wo die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit brüchig ist. Austers Romane sind wie Geisterbahnfahrten: ein bisschen gruselig, ein bisschen der Realität entrückt und meistens ein großer Spaß.

Das ist auch in seinem neuen, 15. Roman "Unsichtbar", der heute erscheint, nicht anders. Vordergründig erzählt er von einer Amour fou zwischen New York und Paris in den späten 60er-Jahren. Adam Walker, ein Student mit Dichterambitionen, verliebt sich auf einer Party in die zehn Jahre ältere Margot, die so gelangweilt dreinschaut, dass allein diese Tatsache sie in Walkers Augen unendlich attraktiv macht. Auster wäre nicht Auster, spinnte er daraus nun eine klassische Liebesgeschichte mit Höhen und Tiefen. Hier verläuft die Begegnung komplizierter, uneindeutiger.

Vielmehr nämlich als Margot beeinflusst ihr ominöser Begleiter künftig Walkers Leben: Rudolf Born, ein Professor und Mäzen im leicht angeschmutzten weißen Leinenanzug, verliebt in das eigene Auftreten. Er bietet dem Studenten an, eine ambitionierte Literaturzeitschrift herauszugeben - auf seine, Borns Kosten. Wenig später dann, Walker träumt noch den Traum von seiner Herausgeber-Karriere, wird er Zeuge, wie Born einen schwarzen Teenager, der ihn bedroht, mit mehreren Messerstichen tötet - und sich anschließend aus dem Staub macht. Hätte er etwas tun können, sollen, müssen? Dieser Gedanke verfolgt Walker noch Jahrzehnte später, als er bereits ein alter Mann ist und immer noch staunt über die Wendung, die ein scheinbar harmloses Kennenlernen in der Biografie eines Einzelnen entfachen kann.

Dafür, wie das Leben durch Zufälle gelenkt wird und Zufälle zum Schicksal werden, weshalb ein Leben genau so verläuft und nicht anders, hat sich Auster seit jeher interessiert. Auch in "Unsichtbar" werden diese Fragestellungen zum Leitmotiv. Seine Figuren sind ihm auf eine Art ausgeliefert, als würde das Schicksal mit Playmobilfiguren spielen. Das Erstaunliche hierbei ist, dass die Romane des Autors nicht wie Versuchsanordnungen daherkommen, sondern hoch lebendige Geschichten erzählen. Geschichten, die mehr als nur eine Lesart offerieren.

Man kann den 63 Jahre alten Auster, der mit Siri Hustvedt das wohl glamouröseste Autorendoppel New Yorks bildet, kaum lesen, ohne das Porträt im Buchumschlag vor dem inneren Auge zu haben: das grau melierte Haar und die schweren Augenlider, umhüllt von Zigarettenrauchschwaden. Der Prototyp des amerikanischen Intellektuellen - an diesem Image hat Auster selbst immer fleißig mitgearbeitet. Fast meint man, im Hintergrund die Tasten der Schreibmaschine klappern zu hören, auf der er jedes seiner Bücher schreibt, angeblich ein Modell der Marke Olympia. Autobiografische Splitter ziehen sich denn auch durch sein gesamtes Werk; nicht von ungefähr ist es bevölkert von Schriftstellern, Dichtern und sonstwie Schreibenden.

Für "Unsichtbar" hat sich Auster in die Zeit seines Paris-Aufenthalts 1967 zurückversetzt - und man kann sich gut vorstellen, dass der junge Auster einst ein Typ wie sein Protagonist Adam Walker gewesen ist: gut aussehend, vergrübelt, in Bohème-Kreisen verkehrend und gleichzeitig zurückgezogen in die Einsamkeit. Für den Roman sind derlei Leserfantasien natürlich unerheblich. Und doch spielt auch dieser Fakt in das Spiel hinein, dass der Schriftsteller seit seiner berühmten "New York Trilogie" Mitte der 80er zu seinem Markenzeichen gemacht hat: die Tüftelei als Stilmittel, das virtuose Verschachteln von Plots als literarisches Prinzip. Bei Auster alles zum Nennwert zu nehmen hieße, ihm auf den Leim zu gehen. Man unterschätzt ihn hingegen, erkennt man die gelassene Könnerschaft nicht an, mit der er sich über Erzählkonventionen hinwegsetzt und den Leser damit immer wieder aufs Neue in seinen Bann zieht.

"Unsichtbar" ist geradliniger erzählt, weniger selbstreferenziell als man es aus früheren Büchern ("Die Musik des Zufalls", "Das Buch der Illusionen") gewohnt ist. Zwar gibt es auch hier einen Roman im Roman, zwar begibt sich wieder einmal ein Mensch auf die Spuren eines anderen, doch kann man der Handlung insgesamt mühelos folgen, die zum großen Teil aus Walkers amourösen Verwicklungen und seinem Racheplan an der Dämonengestalt Rudolf Born besteht. Deshalb ist die Geschichte längst nicht konventionell erzählt. Sie besitzt im Gegenteil eine ganz eigentümliche Schönheit, eine Wehmut fast, die zum einen daher rührt, dass Auster den melodramatischen Handlungsverlauf nicht scheut - immerhin hat er einschlägige Erfahrungen im Filmgeschäft.

Zum anderen sind seine Protagonisten von der Art, wie man sie zwar oft in Büchern findet, aber selten von solcher Prägnanz: Einsame in der großen Stadt, Seiltänzer zwischen Absturz und Glücklichsein, Verzweifelte mit lädierten Lebensläufen. "Sie kommen aus dem Unbewussten, ich suche sie nicht, sie finden mich", hat Auster einmal über seine Figuren gesagt. Haben sie ihn gefunden, treibt er sie (und den Leser) auf verschlungenen Erzählpfaden vor sich her - um ein weiteres Mal auszuloten, wie viel Platz in der Realität ist für Halluzinationen, Wunschträume und Halbwahrheiten. Wie viel glatte Lügen die Wirklichkeit erträgt, bis sie darunter zusammenbricht.

Es gibt keine Gewissheit. Im Leben nicht und bei Paul Auster schon gar nicht.

Paul Auster: Unsichtbar Rowohlt Verlag, 320 S., 19,95 Euro. Aus dem Englischen von Werner Schmitz