Stevie Wonder hätte in Berlin am liebsten die ganze Welt umarmt und nahm seine Zuhörer mit auf eine Reise in die 60er-Jahre.

Berlin. Mein Gott, können Väter manchmal peinlich sein. Weil sie ihre Kinder in Situationen bringen, für die sie eigentlich nichts können und sich trotzdem schämen, jedenfalls wirkt Sophia Morris ziemlich unsicher, als sie auf die Bühne der Zitadelle Spandau gerufen wird. Dort hat Stevie Wonder gerade "Isn't She Lovely" angestimmt. Seine Tochter Sophia hat an diesem Tag Geburtstag, und deshalb wird sie den 6500 Zuschauern präsentiert. "Seht her, welch wunderbares Geschöpf ich in die Welt gesetzt habe", drückt ihr Vater mit seinem Song aus - wenngleich er "Isn't She Lovely" eigentlich für seine 1975 geborene erste Tochter Aisha geschrieben hatte. Doch diese herzlich gemeinte Geste ist typisch für Wonder.

Der 60 Jahre alte Soul-Star mit dem bürgerlichen Namen Stevland Hardaway Morris ist ein Familienmensch. Und eigentlich möchte er an diesem Abend nicht nur seine Teenager-Tochter, sondern die ganze Welt umarmen. "Lasst uns so frei sein, dass wir zu einer Einheit werden", skandiert er später in dem gebetsartigen Song "Free".

Eine andere Familie war entscheidend für die Karriere des zum Superstar gewordenen blinden Sängers. Bereits als Elfjähriger nahm Berry Gordy den Knirps 1961 für sein Motown-Label unter Vertrag. In Hitsville, dem Motown-Studio in Detroit, hing Little Stevie tagaus, tagein mit all den anderen Musikern und berühmten Sängern herum. Hier war sein Zuhause, Motown war seine Familie. Beim Berliner Konzert nimmt er die Zuhörer mit auf eine Reise zurück in die 60er-Jahre. "Uptight", "I Was Made To Love Her", "For Once In My Life", "Yesterme, Yesteryou, Yesterday" und "Signed, Sealed, Delivered" holt er aus der Motown-Schatzkiste, seinen ersten Nummer-eins-Hit "Fingertips - Pt. 2" singt er mit hoher Kinderstimme wie damals, als er noch Little Stevie Wonder hieß.

Inzwischen ist aus dem Schlaks von einst ein etwas fülliger 60-Jähriger geworden. Auch das weite Hemd kann seinen Leibesumfang nicht verbergen. Doch diese Äußerlichkeiten sind sekundär, was zählt ist einzig die Musik. Soul und Jazz als eine Sprache, die alle verstehen und erfühlen können. "You can feel it all over", heißt es in "Sir Duke". Auch wenn es im Werk von Stevie Wonder ein paar sehr kitschige Songs gibt, von denen er in Berlin zum Glück nur "I Just Called To Say I Love You" im Programm hat, gilt er als einer der erstklassigen Songschreiber der Popgeschichte. Liebe ist sein großes Thema. "My Cherie Amour" und die Ballade "If You Really Loved Me" sind weitere Beispiele dieses großen Liebhabers, der mit drei Frauen sieben Kinder gezeugt hat.

Stevie Wonder ist nicht nur ein großartiger Sänger, sondern auch ein famoser Entertainer. Immer wieder spricht er mit den Fans, animiert sie zum Mitsingen, macht Späßchen und lacht sich manchmal über sich selbst schlapp, wenn ihm eine gute Pointe geglückt ist. Die Kluft zwischen oben auf und unten vor der Bühne ist aufgehoben. Der Star, seine Band und das Publikum verschmelzen zu einer Einheit, die gemeinsam Spaß hat. Wonder lässt die Berliner das Volkslied "Muss i denn zum Städtele hinaus" singen, und sie erfüllen ihm diesem Wunsch ohne zu zögern und mit Inbrunst. Immer klappen diese Mitsing-Aktionen allerdings nicht. Das geforderte "Empire State Of Mind" von Alicia Keys scheitert an mangelnder Textkenntnis.

Ob das Hamburger Publikum das besser hinbekommen hätte? Den für gestern angekündigten Auftritt im Stadtpark hatte Wonders Management schon vor Wochen ohne Begründung wieder abgesagt, obwohl innerhalb kürzester Zeit 2500 Karten verkauft worden waren. In die Nähe der Hansestadt hatte Stevie Wonder sich zuletzt im August 1984 begeben, als er auf dem Kalkfelsen in Bad Segeberg gastierte. Damals wie auch jetzt in Berlin endete das Konzert mit Wonders vielleicht bekanntestem Song "Happy Birthday". Ursprünglich für Martin Luther King geschrieben, galt er diesmal Sophia Morris. Die musste zum großen Finale noch mal auf die Bühne. Diesmal schon mit etwas weniger Scheu. Dass ihr Daddy sich diese Vorlage nicht nehmen lassen würde, war klar. Und ein Geburtstagslied ist nicht ganz so peinlich wie eine Hymne auf die eigene Schönheit.