Seine Romane gelten als “sprachmächtig“, aber auch als “Zumutung“

Hamburg. Der bedeutendste deutsche Literaturpreis, der mit 40 000 Euro dotierte und von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verliehene Georg-Büchner-Preis, geht 2010 an den in Berlin lebenden Schriftsteller Reinhard Jirgl. Der studierte Elektrotechniker begann 1975 mit dem Schreiben, wurde allerdings in der DDR wegen seiner "nichtmarxistischen Geschichtsauffassung" nicht gedruckt. Sein Romanwerk "von epischer Fülle" entfalte "ein verstörend suggestives Panorama der deutschen Geschichte", heißt es in der Begründung für die Preisverleihung. 2009 war Jirgls Roman "Die Stille", ein Spiegelbild deutscher Geschichte anhand zweier Familien, sowohl für den Deutschen Buchpreis als auch für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Und das, obwohl die Geschichte als "sperriges Roman-Ungetüm" und auch als "Zumutung" bezeichnet worden war. Aber Bewunderung galt dem "eindringlichen Sprachkunstwerk" und Jirgls "einzigartiger thematischer Fülle". Der Durchbruch gelang Jirgl 1993, als er für sein Manuskript des Romans "Abschied von den Feinden" den Alfred-Döblin-Preis erhielt.

Jirgls zehn, vielfach ausgezeichnete Romane, die sich fast immer mit der deutschen Geschichte beschäftigen, sind oft düster, seine Menschen brutal und einander fremd. Vor allem aber ist es Jirgls ungewöhnlicher, irritierender Sprachgebrauch aus lautmalerischer Rechtschreibung, die vom gewohnten Sprachbild abweicht, die dazu führt, dass man diese Lektüre nur langsam und sich vorwärts tastend konsumieren kann. Der Autor, der schon mal als "Verfinsterungskünstler" betitelt wird, zeigt Menschen zwischen Lebenssuche und Lebensflucht innerhalb eines deutschen Geschichtskomplexes, der sich aus "Traum, Nachtgedanken, Ruinen und Zerstörung" zusammensetzt. Er beschreibt familiäre Verstrickungen, ob unter Sudetendeutschen, Nachkriegsopfern oder DDR-Bewohnern als Geschichtskatastrophen, deren dunkelste Abgründe er durchleuchtet.

Sprache benutzt er - ähnlich wie Arno Schmidt oder James Joyce - auch als Stilmittel der Verfremdung. Flüchtlinge werden "hin1gepfercht", der Staat betreibt "Moneypulationen". Jemand ist ein "Inn-!West-Tor", lebt im "EsEhDeReschiem". Sein avantgardistischer Schreibgestus produziert Sätze wie: "!Das hört nich ! auf : Hörte überhaupt nich mehr !auf: dieser !Alptraum".

Die Juryentscheidung für den diesjährigen Büchner-Preis - der 2009 an den nur Eingeweihten bekannten Walter Kappacher ging - zeigt einmal mehr, dass hier nicht Autoren gut verkaufbarer Bücher ausgezeichnet werden, sondern literarische Innovation und Originalität.