Freiluftkino ist Kult, lenkt aber vom Wesentlichen ab

Das Leben besteht aus Ritualen, sie strukturieren unseren Alltag. Sie beziehen sich auf individuelle Handlungen und kollektive, sie sind kulturell in eine bestimmte Gruppe eingebunden und gemeinsam festgelegt. Rituale sind immer irgendwie bedeutungsvoll, und man kann sie als solche benennen oder einfach mal machen. Jeden Morgen in den Spiegel gucken? Ein schöner, ein wichtiger Ritus. Gemeinsam am Sonntag in die Kirche gehen und danach zum Italiener um die Ecke? Dito. Geht beides immer, ist ästhetischen und seelsorgerischen Notwendigkeiten geschuldet und also ein Evergreen.

Es gibt aber auch saisonal bedingte Verhaltensweisen, die das Leben des Großstädters verfeinern und in den Wochenplanern Monate im Voraus notiert werden. Das Herz macht einen Sprung, wenn die Gedanken zu diesen herrlichen Ritualen schweifen, im Kopf sind sie immerfort und immerdar fantastische Ereignisse mit Erinnerungswert: "Da gehen wir nächstes Jahr wieder hin!"

Feuerzangenbowle bei der freiwilligen Feuerwehr, Osterfeuer auf dem Land. Und Open-Air-Kino, besser: Freiluftkino auf dem Alsterdorfer Markt. Oder am Millerntor. Im Schanzenpark, an der Alster (dort trägt die Chose den schönen Namen "Alsterschwäne Filmvergnügen", klingt poetisch). Man macht dort etwas, was man eigentlich in den eigenen oder fremden vier Wänden macht: einen guten Film sehen (oder einen schlechten) - und dabei auch noch an der frischen Luft sein. Selbstverständlich ist das Filmgucken aber nur der Anlass und der Kitt, der einen Open-Air-Abend zusammenhält.

Der ritualisierte Besuch einer Freilichtbühne besteht nämlich aus vielen Kleinritualen, die der Veranstaltung ihr spezifisches Gepräge geben. Als da wären: eine unbedingte Ich-freu-mich-auf-den-Klassiker-Haltung, die einen vergessen lässt, dass man ihn schon 17-mal gesehen - und noch jedes Mal gegähnt hat. "Manche mögen's heiß", "Rain Man", "Dirty Dancing", "Titanic", "Vom Winde verweht".

Chips, Salzstangen, Baguette und billigen Rotwein einpacken nebst einer Decke und manchmal auch einer Nackenstütze; man will schließlich, anders als im Multiplex-König, ein wirklicher König des Komfortablen sein. Langgestreckt und ungeniert liegt man da, vor einem die Leinwand, über einem der matt schimmernde Abendhimmel. Über allen Gipfeln ist Ruh', In allen Wipfeln spürest Du kaum einen Hauch, die Vögelein schweigen im Walde - und sind damit die Einzigen. Denn das Krachbummbäng im Film wird von einer ebenso hartnäckigen Soundspur begleitet, deren Klang wie ein sinfonisches Dauermurmeln ist. Dynamisch, an allen passenden und unpassenden Stellen schwillt der Lautstärkepegel an.

Es ist eine Aura des Wohlgefühls, die sich einstellt, wenn an öffentlichen Plätzen Kino gezeigt wird. Man kennt sie aus anderen Zusammenhängen, und jetzt gibt's da was zu sehen, was da sonst nicht zu sehen ist. Wenn der Film bei Sonnenuntergang startet, verstärkt dies den ohnehin romantischen Effekt. Manch einer sagt dann "Kult!" und meint eben, dass hier ein Ritual abläuft. Eines, das durchaus dazu angetan ist, das Kunstwerk abzuwerten und ihm nicht die gebührende Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen.

Wir plädieren deshalb für einen Paradigmenwechsel, der alle Konzentration aufs Filmische lenkt, wir heben die Faust für alle wirklichen Cineasten: Open-Air-Kino nur noch im Winter! Keine Sitzplätze für niemand! Alle Sinne sind auf die Leinwand gerichtet. Im Steinbruch der Kultur wird immer gearbeitet. Wer faul im lauen Lüftchen liegt, der denkt nicht nach. Stramme Minustemperaturen, keine geistigen Getränke und Handschuhe. Viel Spaß.

Filmnächte am Millerntor Start am 8.7., alle Infos: www.3001-kino.de