Der Musical-Klassiker “Evita“ gastiert im August an der Staatsoper. Tickets gibt es pünktlich zum Viertelfinale der Weltmeisterschaft.

Hamburg. Es gibt Bilder, die sich ins kollektive Gedächtnis stanzen. Als Maria Eva Duarte de Perón als neue First Lady Argentiniens am 4. Juni 1946 vom Balkon des Präsidentenpalastes Casa Rosada zum Volk sprach, inszenierte sie solch einen historischen Moment. Und das Musical-Dreamteam Andrew Lloyd Webber und Tim Rice schuf für sein Musical "Evita" mit der Nummer "Don't Cry For Me Argentina" eine Art kulturelle Schablone für dieses Ereignis. Ein Lied, so einprägsam und geläufig, dass es auch gerne zweckentfremdet wird. Zum morgigen WM-Spiel Deutschland gegen Argentinien jedenfalls dürfte der Vers vielen Fans und Kommentatoren auf den Lippen liegen.

Wer auch immer den Aufstieg des Provinzmädchens zur "Spirituellen Führerin der Nation" auf Bühne oder Leinwand bringen möchte - ohne Balkon geht es nicht. Die Schablone mag sich ein wenig verschieben. Aber angelegt wird sie. Inklusive des streng frisierten Haars, der gravitätischen Gesten, der emotionsgeladenen Ansprache.

"Ich habe mir zuvor keine andere 'Evita'-Version angesehen, weder live noch als Video, um unsere Version dem Publikum frisch präsentieren zu können", erklärt Bill Deamer, Choreograf der nunmehr dritten englischen Ausgabe, die Komponist Webber und Texter Rice von ihrem Ursprungssingspiel offiziell freigegeben haben. Die britische Produktion, die seit März und noch bis ins nächste Jahr durch Europa tourt, macht vom 10. bis 26. August als Sommergastspiel Station in Hamburg, wo sie in der Staatsoper mit deutschen Übertiteln gezeigt wird.

"'Evita' ist ein brillant konstruiertes Meisterwerk", schwärmt Deamer von dem mehrfach preisgekrönten Musical-Klassiker, der 1978 am Prince Edward Theatre im Londoner West End uraufgeführt wurde und ein Jahr später am New Yorker Broadway Premiere feierte. Varianten unter anderem in Spanisch und Deutsch vervielfältigten den Evita-Kult. Vor diesem Aufführungsreigen nicht in Ehrfurcht zu erstarren, aber zugleich den Erwartungen des Publikums gerecht zu werden, darin bestand die große Herausforderung für Regisseur Bob Tomson. Doch der sieht in der Tradition eher Stütze als Bürde. "Die lange Geschichte des Musicals gibt mir auch Sicherheit. Denn ich weiß einfach, dass die Story funktioniert."

Manche hätten "Evita" als "multimedialen Schock" eingerichtet, andere konzentrierten sich verstärkt auf tänzerische Passagen. Tomson jedoch wollte "die Charaktere in den Vordergrund stellen", das Liebesdreieck zwischen dem Oberst und späteren Staatschef Juan Perón (Mark Heenehan), der charismatischen Karrieristin Evita (Abigail Jaye) sowie Che (Mark Powell).

Jener ist halb Nebenbuhler, halb Kritiker, der das Spiel zwischen Romanze und Politik, Machtgier und Wohltätigkeit, Medienshow und Privatleben wohlwollend bis zynisch kommentiert. Ursprünglich sei diese an Guevara angelehnte Figur zusätzlich hineingeschrieben worden, um das Publikum in den USA zu schocken, erzählt Tomson. Das Exemplar der Nuller-Jahre trägt zwar noch Guerilla-Uniform, kommt ansonsten jedoch recht schön gefönt daher.

"Da Che längst als Standard etabliert ist, wollte ich ihn humaner zeichnen, in einer Phase, bevor er der aggressive Revolutionär wird." Ein Prinzip, das der Regisseur auch auf das Powerpaar Perón anwendet. "Neben dem historischen Panorama geht es letztlich ja um die Geschichte von Eheleuten, von denen am Ende einer stirbt", rückt Tomson das Menschliche in den Fokus.

Um seine "Evita" dem Zeitgeist anzupassen, ist erstmals der Song "You Must Love Me" in einer Bühnenfassung zu hören. Die mit einem Oscar gekürte Gänsehaut-Ballade, mit der die kranke Evita ihre Liebe besingt, komponierten Webber und Rice für die Verfilmung von 1996, in der Madonna eine weich gezeichnete Popversion des Mythos kreierte. Tomson sieht Evita, die mit nur 33 Jahren 1952 ihrem Krebsleiden erlag, in einer Reihe mit glamourösen, einflussreichen Frauen wie Grace Kelly, Jackie Kennedy Onassis und Lady Di. Obwohl Produzent Julius Green einwirft: "Eva ist keine Person, mit der man wegen ihrer komplizierten Persönlichkeit so leicht sympathisiert." Daher zeigt das Musical (im Rahmen des Genres, versteht sich) auch ihre weniger rühmlichen Facetten.

Wie sie als blutjunges Model, dann als Radiomoderatorin und schließlich als Filmschauspielerin mit glühenden Augen und unter vollem Körpereinsatz Affäre um Affäre die Erfolgsleiter hinauf kokettiert. Oder wie sie öffentlichkeitswirksam als "Santa Evita" Gaben an die Armen verteilt (in der Staatsoper singt sie diesen Song mit der erst achtjährigen Hamburgerin Silja Timm). Nicht umsonst wurde die schmissige Show in Dublin, wo die aktuelle Europatournee im Frühjahr gastierte, mit dem Untertitel "She seduced a nation" (Sie verführte eine Nation) beworben.

Obwohl Musicals nicht gerade dafür bekannt sind, Kontroversen hervorzurufen, dürfte den Argentiniern diese Darstellung ihrer Nationalheldin kaum gefallen. Denn in dem Land, das dieses Jahr 200 Jahre Unabhängigkeit feiert, wird Eva Perón nach wie vor wie eine Heilige verehrt. "Evita " sei paradoxer Weise noch nie offiziell dort aufgeführt worden, berichtet Tomson. Insofern kann es als mutiger Schritt gewertet werden, dass die deutsche Botschaft Argentiniens die Schirmherrschaft für die aktuelle Tour übernommen hat. Wohl wissend, dass Bilder zwar bestehen, sich jedoch nicht zementieren lassen.

Evita 10. bis 26. 8., je 20 Uhr (Sa + So auch 15 Uhr), Staatsoper, Große Theaterstraße 25; 10,30 bis 81,18 Euro, Abendblatt-Ticket-Hotline 30 30 98 98