Die Solo-Bratscherin Julia Rebekka Adler trägt zur Wiederentdeckung des polnisch-russischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg bei

Geigen ist Silber, Bratschen ist Gold. Orchester- und Kammermusikhierarchen sehen das selbstverständlich anders. Ihnen gilt die Bratsche oder Viola als dienende Mittelstimme zwischen den ersten und zweiten Violinen und dem Cello. Für sie ist die Viola das Aschenputtel, oder, weniger märchenhaft gesagt, das dritte Kind in der Familie. Sie muss sehen, wo sie bleibt. Im Klang etwas näselnd, liegt ihr Tonumfang zwischen den Jubeltönen der Geige und dem menschlich beredten Plauderton des Cellos. Die Bratsche zwitschert nie. Sie ist, mit Robert Schumann gesagt, fast zu ernst.

Im immens vielfältigen und jahrelang beinahe vergessenen Schaffen des polnisch-russischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg aber nimmt die Bratsche einen ehrenvollen Platz ein. Vier Sonaten für Viola solo hat Weinberg in den zwölf Jahren zwischen 1971 und 1983 komponiert. Wie die Widmungen der Stücke bezeugen, hatte er jeweils ganz bestimmte Interpreten im Sinn - natürlich ausnahmslos Violaspieler. Doch das nützte ihm nicht viel. Nur die erste Sonate wurde auf Schallplatte aufgenommen und erschien im Notendruck. Die Sonaten 2 bis 4 wurden erst vor Kurzem postum veröffentlicht. Jetzt hat die Münchner Solobratscherin Julia Rebekka Adler die Ersteinspielung dieser bewegenden, starken Musik auf einer Doppel-CD vorgelegt.

1939 endete Weinbergs Ausbildung - und jede Hoffnung auf Karriere

Das Album ist ein weiterer Mosaikstein zum sich langsam fügenden Bildnis eines in besonderem Maße in die Tragödien und Wirrnisse des 20. Jahrhunderts geworfenen Künstlers. Weinberg, 1919 in Warschau geboren, war ein Wunderkind. Seinen ersten öffentlichen Auftritt am Klavier hatte er mit zehn. Den Zwölfjährigen nahm das Konservatorium in Warschau auf. 1939 war seine akademische Ausbildung abgeschlossen - und jede Hoffnung zunichte gemacht, als Jude in Polen Konzertpianist zu werden. Die Eltern und die Schwester wurden deportiert und 1943 von den Nazis im Zwangsarbeitslager Trawniki ermordet. Nur der 20-jährige Mieczyslaw Weinberg konnte fliehen. Über Minsk und Taschkent gelangte er schließlich nach Moskau, wo er bis an sein Lebensende 1996 blieb.

Allerdings befand er sich dort, wie es im Begleittext zur CD heißt, "in einer Art Parallelwelt": Komponistenkollegen, allen voran Dmitri Schostakowitsch, und Interpreten vom Range eines Mstislav Rostropovich (für den 1959 seine zweite Cellosonate entstand) schätzten Weinbergs Musik, doch das Publikum nahm kaum von seiner Kunst Notiz. Zudem blieb er Ausländer; er sprach Russisch mit polnischem Akzent, und Stalin war lang genug Hitlers Freund gewesen, um Juden nicht zu mögen. Im Februar 1953, in der Spätphase des Stalinismus, warf man Weinberg nach der gefeierten Uraufführung eines Werks für Violine und Orchester - David Oistrach hatte den Solopart gespielt - unter dem Vorwand, er habe konspirativ auf der Krim eine jüdische Republik begründen wollen, ins gefürchtete Moskauer Gefängnis Lubjanka. Stalins Tod ermöglichte seine Freilassung nach dreieinhalb Monaten Gefangenschaft.

Musik als Exilraum einer von der Realität unanfechtbaren Schönheit

Weinbergs Violasonaten bereichern das schmale Repertoire für das Instrument um expressive Musik, reich an Zwischentönen, emotionalen Valeurs und technischen Hürden für den Interpreten. Sie stehen in der Tradition russischer Virtuosenmusik, jedoch erscheint der Gestus des unbekümmerten Alleskönnens bei gleichzeitiger Seelentiefe vielfältig gebrochen. Unweigerlich hört man die Musik zugleich als Reflex auf die schwierigen Lebensumstände und als Exilraum einer von jeder Realität unanfechtbaren Schönheit. Wie alle gute Solomusik feiert sie den Triumph des Individuums über das Kollektiv, der Idee über die Ideologie.

Die Hereinnahme einer Bearbeitung von Weinbergs Klarinettensonate (1945) für Viola und der Solosonate des Bratschers Fyodor Druzhinin (1959) eröffnet zudem aufschlussreiche historische Perspektiven. Die bieten sich in diesem Sommer auch den Besuchern der Bregenzer Festspiele, die Weinbergs Schaffen ins Zentrum rücken. So kommt es dort endlich zur Uraufführung seiner Oper "Die Passagierin".

Das im Booklet faksimilierte Autograf des ersten Satzes der Sonate Nr. 2 zeigt eindeutige Tempo- und Metronomangaben, die sich als Satzbezeichnung im Begleitheft nicht wiederfinden. Julia Rebekka Adler aber spielt so vertrauenswürdig, dass man Geist und Notenschrift in ihrer Interpretation authentisch wiedergegeben glaubt.

Mieczyslaw Weinberg: Complete Sonatas for Viola solo . Julia Rebekka Adler (Neos)