Tina Uebel, Schriftstellerin (“Horror Vacui“, “Last Exit Volksdorf“)

Platte meines Lebens, wie bitte, wohl von der Muffe gepufft. Musik ist so lebensnotwendig wie Atmen, aber mein Leben gottlob heute ein anderes als vor zehn Jahren; winters anders als sommers, morgens anders als nachts. Sicher, im Notfallkoffer wird das Velvet-Underground-Live-Doppelalbum ebenso wenig fehlen wie Sergeant Pepper - die erste echte Musik meines Lebens, mit fundamentalem Staunen gehört - aber was heißt das schon.

Nein, es gibt sie nicht, die Platte. Aber es gibt diese andere Platte. Die erste aufgenommene Kassette, die ich besaß. Ich hörte sie zwischen Pferdepostern und Stofftieren, und plötzlich brach Unerhörtes in meine Vorstadtkindheit ein. Musik. Brachial. Provokant, gemein, unwiderstehlich. Musik, die meine Mutter nicht verstand. Beweg deine Hüften. Klatsch in die Hände. Und tanz den Mussolini. Tanz den Adolf Hitler. Und jetzt den Jesus Christus. Damit begann meine Kindheit zu enden. Fünf Jahre später tanzte ich mit meinen Freunden den Mussolini zu Weihnachten auf dem Balkon meiner eigenen Wohnung. Zwei Jahre später tanzten wir ihn zum Abitur.

17 Jahre später. Sind wir zu einer Lesung in Berlin, meine Schriftstellergang und ich, und wir stellen plötzlich fest, dass bei uns allen früher der Mussolini der Song war. In Vororten und Kleinstädten, wo wir vom Schreiben träumten und Musik hörten und nie werden wollten wie die. Und dann also tanzen wir den Mussolini, fegen über die Tanzfläche, fallen in herumsitzende Menschen, die jünger sind als wir. Es sieht mit Sicherheit scheiße aus. Es ist trotzdem gut. Alles ist gut.

Vorsätzlich höre ich die Platte nie. Aber sie begegnet mir zuweilen. Erinnert mich daran, unser Potenzial für Übermut, Größenwahn, Rock 'n' Roll nicht zu vergessen. Den Mussolini zu tanzen, zumindest gelegentlich.