Tuten und Lachen: 100.000 Aufnahmen lagern im Schallarchiv des NDR. Wie macht man Sendungen in Hörfunk oder Fernsehen damit lebendig?

Hamburg. Auf den ersten Blick ist hier, in einem verwinkelt liegenden Zimmer des NDR an der Rothenbaumchaussee, nicht der Ort, an dem man das pralle Leben vermutet. Im eher sparsam eingerichteten Zimmer von Wingolf Grieger steht eine Tube Creme, "Handsan", im Regal. Auf dem Flur davor wurde ein Rollwagen abgestellt, der in mehreren Etagen ausführlich beschriftete Tonbänder beherbergt. "Verschiedene Hunde" steht da beispielsweise und "Dackel, zweieinhalbjähriger Rüde, Gebell, Hecheln" oder "Chin. Terrier, einjährige Hündin, Gebell". An der Seite klebt: "3.1.1949". "Früher", sagt Grieger, "haben die Kollegen bei Reportagen zusätzlich noch Geräusche aufgenommen, Hafentuten, Autos, die an- und abfahren, Kindergeschrei, alles, was sich ergab. Diese Geräusche werden seit 1949 bei uns archiviert und auf Karteikarten festgehalten."

Wingolf Grieger arbeitet im Geräuscharchiv des NDR. Dort lagern im Keller an die 100 000 verschiedene Geräusche auf Bändern, die meisten davon sind auch digitalisiert. "Schüsse mit" und "Schüsse ohne Versager" gibt es da, "Abflug und Anspringen einer 4-motorigen Maschine", "Autofahrten" mit "Bremsen", "Start", "Türklappen", "Anlassen", "Stottern" und vielem mehr. Zahlloses "Glockengeläute" mit Angaben der dazugehörigen Kirche oder "Hafendampfer, Hapag, 1953, fährt von links an den Anleger Teufelsbrück an und dann wieder ab. Im Hintergrund Menschenstimmen, Möwengeschrei".

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"Früher wurden die Bänder in das Produktionsstudio gebracht und durchgehört", sagt Grieger "heute hört sich jeder das, was er braucht, am Computer als Audiofile an." Töne und Geräusche holt man sich per Mausklick aus dem digitalen Archiv und zieht sie dann, ebenfalls per Maus, an die Stelle der Sendung, an der man sie hören soll. Das kann ein schrilles Lachen in einer Talkshow sein, ein Hupen, das man nachträglich in eine Straßenszene einbauen will, oder auch Sprachgemurmel, um tote Orte atmosphärisch zu beleben. Und selbst wenn das Publikum in einer Sendung eher verhalten reagiert, dann kann man nachträglich heftigen Applaus dazugeben und es klingt nicht mal nach Lug und Trug. "Ein kundiger Tontechniker kann jede Menschenmenge vergrößern", weiß Grieger. Was ist noch authentisch? Ziemlich wenig wahrscheinlich. "Wir haben auch schon Theatern und Museen geholfen, wenn ein bestimmtes Geräusch dringend gebraucht wurde", sagt Grieger. "Amateure bekommen das umsonst." In einen Bericht übers Theater kann man "Kleine Gruppe, Foyer, einzelne Lacher" hineinmischen. Man ist dann praktisch mittendrin. "Wichtig ist, dass man kein einzelnes Wort versteht", sagt der Tonexperte "der Hörer wird sonst abgelenkt." Das Foyergeräusch, 1972 aufgenommen, funktioniert bis heute.

In den 80er-Jahren, als es im deutschen Fernsehen mit Komikern und Comedy so richtig losging, da hat man die Sketche gerne mit Konservengelächter übertönt. Es sollte echt klingen, erschien aber so mechanisch, dass man als Zuschauer versteinerte. Dass das Rohstoffgelächter die Wirkung der Szenen beeinflusst hat, kann man sich nur im negativen Sinne vorstellen: Je mehr künstliches Geplärre, desto verdrießlicher die Zuschauer. "Damit ist weitgehend Schluss", sagt Wingolf Grieger, "beim NDR produzieren wir keine Sitcoms mit Einspielgelächter."

Ganz früher gab es einen Geräuschemacher, der konnte mit Kokosnüssen Pferdegetrappel herstellen oder mit einer Krawatte an der Tischkante Windesrauschen. Diese künstlich und live erzeugten Geräusche braucht man heute nicht mehr. Jeder, der hier ein Hörspiel oder einen Fernsehbeitrag produziert, kann auf die natürlichen Geräusche aus dem Schallarchiv zugreifen, zu denen auch die in aller Welt gebräuchlichen Geräusche gehören, die spezielle Verlage auf CDs liefern. "Das sind Serien von Geräuschen, die heißen "Nature" oder "City" und liefern beispielsweise 1200 Tierstimmen, vom Moskito bis zum Tiger. "In unserem Zentralarchiv kann jeder, der ein Feature, ein Hörspiel oder auch nur einen Anderthalb-Minuten-Beitrag liefert, seine Geräusche suchen", sagt Grieger.

Braucht man den Sound eines Autounfalls, so findet man alles, vom Sturz eines Autos von der Klippe bis zum kleinen Ratscher an der Fahrertür. Ob Rundfunk oder Fernsehen, wer seine Hafen-Reportage mit einem fetten Brummen der "Queen Mary" aufpeppen möchte, wird ebenso fündig wie jemand, der in sein Studiogespräch eine knarzende Tür schneiden möchte. Grieger führt das Schiffstuten vor, und da fliegen einem wirklich fast die Ohren weg. 309-mal ist "Dampfertuten" archiviert. Da ist für jede Stimmung, für jeden Anlass etwas dabei.

Natürlich muss man Lautstärken und Töne anpassen, man kann Geräusche stauchen, kürzer machen, abschneiden, intensivieren, sie greller klingen lassen. Alles am Computer natürlich, wie bei Photoshop, wenn man auf "verbessern" drückt. Jeder, der im Studio sitzt, kann Meeresrauschen drüberlegen, Straßenlärm oder Affengekreische. Für Hörer ist es dann Sylt, die Osterstraße oder Kenia. "Ob man ein Hörspiel oder einen Minutenbeitrag produziert oder im Synchronstudio beim Film arbeitet", erklärt Grieger, "das Prinzip ist gleich. Da gibt es kaum Unterschiede." In den vergangenen zehn Jahren sind gut 60 000 Geräusche aus dem Archiv downgeloaded worden. Heute haben die Mitarbeiter beispielsweise "Meer", "Brandung", "Wasserfall", "Klospülung", "Wellen", "Affe", "Leopard", "Motorrad Harley", "Traktor Volvo" "Deutscher Schäferhund" und "Autohupe" aus dem Geräuschearchiv geladen. Praktisch, dass das inzwischen digital passiert. Wenn man mit Grieger in den Keller geht und durch die alten Bänderbestände schaut, mahnt er: "Waschen Sie sich bloß hinterher die Hände. Hier ist alles voller Staub." Aha, deshalb die Handcreme.