Kirsten Boies Buch “Der Junge, der Gedanken lesen konnte“ ist ein toller Krimi

Valentin entdeckt den Friedhof nur, weil er fast über Mesuts ausgestreckte Beine gestolpert wäre. Der Türkenjunge spielt mit seinem Handy, sieht älter aus, was er vermutlich nicht ist, und wird gleich wütend. "Was ist, du Spast, hast du keine Augen im Kopf?", brüllt er Valentin an und setzt obercool drauf: "Vöpisss disch!" Vorsichtshalber widerspricht der schmächtige Bursche mit Brille und Basecap nicht. Statt rechts in die Stadt zu gehen, wie er ursprünglich wollte, weicht Valentin nach links aus und spaziert lässig in Richtung Grünanlagen.

Und schon steckt Valentin mittendrin im größten Abenteuer seines Lebens. Kirsten Boie erzählt es in ihrem spannenden Friedhofskrimi "Der Junge, der Gedanken lesen konnte" aus der Sicht des zehnjährigen Russenjungen Valentin. Er ist gerade mit seiner Mutter in die Wohnsiedlung gezogen. Beim genauen Beobachten der neuen Umwelt und der Mitmenschen entdeckt er auch seine ungewöhnliche Gabe: Schaut er jemanden länger als gewöhnlich an, kann er die Bilder in dessen Kopf sehen. Richtig schwindlig wird ihm dabei. Könnte aber auch an der Sonne liegen. Der Feriensommer ist fast so glutheiß wie in seiner Heimat.

Valentin wollte zur Leihbücherei, um eine Detektivgeschichte zu holen - und gerät nun selbst in eine hinein. Denn auf dem Friedhof macht er die Bekanntschaft von etwas seltsamen Leuten. Eine dicke Frau schiebt schnaufend ihren Einkaufswagen über die Kieswege und klagt über einen gemopsten Golddollar, der eigentlich ihr gehören sollte. Der Gärtner Bronislaw mit seiner Schubkarre jätet Unkraut und meckert über die Schilinskys. Das Ehepaar picknickt fröhlich auf seiner Grabstelle und stört in seinen Augen "die Würde des Ortes". Herr Schmidt schaut auch vorbei. Er besucht mit Foxterrier Jiffel die letzte Ruhestätte seiner Else.

Inmitten der komischen Gruppe findet Valentin Anschluss und Gesellschaft. Weil seine Mutter tagsüber arbeitet, ist er sich selbst überlassen. Zudem passieren seltsame Dinge. Nicht nur der Golddollar von Dicke Frau ist verschwunden, Bronislaw wird hinterrücks niedergeschlagen. Valentin findet ihn mit einer Beule auf dem Boden bei der Kapelle. Außerdem überfällt ein Gentleman-Räuber mit geheimnisvoller Tätowierung am linken Handgelenk ein Juweliergeschäft. Trägt nicht auch Bronislaw ein Tattoo? Doch an welcher Hand? Könnte der nette Pole ein Dieb sein? Valentin beschließt, den Fragen auf den Grund zu gehen und sie in seinem Ein-Mann-Detektivbüro am Küchentisch aufzuklären. Lernte er nicht aus den Krimis der Leihbücherei? Auf Polizisten ist kein Verlass.

Der Tod spielt nicht nur auf dem Schauplatz von Boies behutsam, doch direkt und wirklichkeitsnah geschriebenem Buch eine Rolle, sondern auch im Leben einzelner Figuren. Die dicke Frau verlor ihren Sohn und begann aus Kummer zu trinken. Valentins älterer Bruder Artjom starb bei einem Unfall. Er denkt oft an ihn. Nicht nur, weil er dessen alte Mütze als Glücksbringer trägt. Vielleicht ist Valentin deshalb einsamer und ein bisschen anders als andere Jungs?

Die durch ihre vielen Bücher bekannte und renommierte Hamburger Autorin zeichnet humorvoll und sensibel das Porträt eines fantasiebegabten Kindes, das sich entschlossen und neugierig seinen eigenen Weg sucht. Valentin ist außerdem - wie viele Jugendliche heute in den Trabantenstädten - ein kleiner aufgeweckter Mitbürger mit sogenanntem Migrationshintergrund. Boie macht dem großen wie kleinen Leser unaufdringlich und ohne Schulmeisterei bewusst: Menschen bleiben einander nicht fremd, wenn sie sich ohne Vorurteile begegnen. Sie bietet mit ihrem wunderbaren neuen Buch weder einen simplen Krimi noch einen weiteren Fantasy-Roman, sondern beschreibt durch Valentins Augen fantasievoll die Lebenswirklichkeit vieler Erwachsener und Kinder, die sich nach einem verlorenen Zuhause sehnen und doch im neuen dazugehören möchten.

Fällt das erste Zusammentreffen von Mesut und Valentin wenig erfreulich aus: Im Laufe der Geschichte werden sie zu dicken Freunden.

Kirsten Boie: "Der Junge, der Gedanken lesen konnte". Verlag Friedrich Oetinger, 320 S., 14,95 Euro, ab zehn Jahren