Ballett-Intendant John Neumeier schätzt auch Gedichte von Rilke

Bücher spielen eine essenzielle Rolle in meinem Leben. An mein erstes Leseerlebnis erinnere ich mich genau: Meine liebste Tante hat mir das Märchen "Der glückliche Prinz" von Oscar Wilde vorgelesen. Es hat mich tief beeindruckt, es ist immer noch eine der schönsten Geschichten, die ich kenne. Ich habe sie dann wieder vergessen, viel später aber wiederentdeckt. Das Buch mit Oscar Wildes Märchen war das letzte Geschenk an meinen Freund Maurice Béjart zum 80. Geburtstag.

Ein für mich sehr wichtiges Buch habe ich mit elf Jahren in der Bibliothek meiner Heimatstadt Milwaukee entdeckt: Es hatte einen rosafarbenen Einband und hieß "The Tragedy of Nijinsky". Anatole Bourman erzählt das Leben des genialen Tänzers und Choreografen Vaslav Nijinsky, der mich mein Leben lang beschäftigen und begleiten sollte: In meiner künstlerischen Arbeit wie auch als Sammler. Ich hatte damals schon ein wenig getanzt, es gab jedoch keine professionelle Ballettschule oder feste Compagnie in Milwaukee. Ich besuchte aber jedes Ballett-Gastspiel, sah die Aufführungen von den Plätzen für 1,25 Dollar oben im Rang nur immer aus der Ferne. Das Buch handelt von einem jungen Mann und Künstler. Es hat mir den Tanz über die Begegnung mit dem Menschen Nijinsky nahegebracht und mir eine Welt eröffnet. Man könnte sagen, das Buch spielte für mich eine identitätsstiftende Rolle, es half mir, auf meinen richtigen Weg zu finden.

Das erste Buch für meine spätere Tanzsammlung kaufte ich mit 13 Jahren: Es war der Bildband "Ballet Portraits" des bekannten Fotografen Maurice Seymour. Ich halte Bücher gern in der Hand, liebe sie auch als Kunstobjekt, wie sie aussehen, eingebunden oder illustriert sind. Als ich 1962 nach Europa ging, konnte ich damals in London billig Bücher kaufen. Ich sammelte für Amerika, wusste noch nicht, dass ich so lange hier bleiben würde.

Jetzt umfasst meine Tanzbibliothek etwa 13 500 Bände. Dazu besitze ich noch andere Bücher und meine privaten, die Romane und Gedichte. Eine ganze Wand voll. Mein Lieblingsdichter? Rainer Maria Rilke. Ich habe ihn natürlich zuerst auf Englisch gelesen, wie die meisten Bücher, doch jetzt geht es auch auf Deutsch, es dauert nur etwas länger. Ich kenne Rilke nun im Original.

Zum Schreiben meines Buches "In Bewegung" bin ich über das Schreiben von Tagebüchern und Notizen gekommen. Ich habe immer viel geschrieben, doch ich muss zugeben, dass ich nicht aus Leidenschaft schreibe, wie es vielleicht einige Schriftsteller tun. Geht es um Briefe oder Texte, die gedruckt werden in Programmen oder Büchern, bin ich sehr kritisch und pingelig, vor allem wenn ich auf Englisch schreibe. Ein Grund, warum ich mit meiner Autobiografie noch nicht begonnen habe. Ich verändere die Texte mindestens zehnmal, suche nach richtigen Adjektiven und habe meine Sekretärin, die liebe Frau Pfitzner, oft zur Verzweiflung getrieben. Im Deutschen fühle ich mich freier, das ist eine Fremdsprache für mich. Aber nach der 50. Änderung eines Textes freue ich mich dann doch, dass ich etwas fest auf Papier stehen habe.