Der demografische Wandel macht's möglich: Im Kino und auf der Theaterbühne sind graue Haare kein Makel mehr. Jugendliche gehen seltener ins Kino.

Hamburg. Hollywood und ein Publikum jenseits frisch abgeheilter Pubertätspickel: Das passte jahrzehntelang einfach nicht zusammen. Die Jungen waren im Fokus, wer die 30 überschritten hatte, war kein potenzieller Kunde mehr und damit in der Regel uninteressant. Die "Silver Surfer" der Generation 50 plus hatten die Vorstandsetagen der großen Produktionsstudios ohnehin nicht auf dem Schirm. Kasse machten Teeniekomödien und Actionreißer für die U-25-Fraktion. Ältere, so das Mantra der Studiobosse, gingen doch höchstens zu Ostern oder Weihnachten ins Kino - warum dieser Gruppe also größere Beachtung schenken? Eine Einschätzung, die auch in Europa dominierte.

Doch ein Blick ins aktuelle Kinoprogramm zeigt: Die Zeiten haben sich geändert. Und zwar gewaltig. "Best Exotic Marigold Hotel", "Schnee am Kilimandscharo", ganz aktuell die Rentner-WG-Tragikomödie "Und wenn wir alle zusammenziehen?": Filme, in denen Lebensentwürfe älterer Menschen thematisiert werden, häufen sich. Hinzu kommen anspruchsvolle Dramen, Komödien, Biografien, ja sogar Psychothriller, die vor allem ein reiferes Publikum in die Kinos locken. Von "The King's Speech" über "Die Eiserne Lady" bis zu "Eat Pray Love", "Black Swan" und "The Artist": Die "grauen Panther" sorgen für gefüllte Kassen.

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"Wer in Zukunft an dem Milliarden-Markt der Neuen Senioren partizipieren will, muss sich ihren Bedürfnissen anpassen", schrieben Horst W. Opaschowski und Ulrich Reinhardt bereits 2007 in ihrem Buch "Altersträume". Das scheint die Filmindustrie verstanden zu haben. Es war auch höchste Zeit, denn die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Im Vergleich zu 2001 kauften im Jahr 2010 in Deutschland die 50- bis 59-Jährigen 17 Prozent und die über 60-Jährigen sogar 62 Prozent mehr Kinotickets. Tendenz weiter steigend. Wer dann noch berücksichtigt, dass der demografische Wandel längst eingesetzt hat, die Gesellschaft also immer älter wird, weiß, was das Gebot der Stunde ist: Noch mehr Stoffe für ein älteres Publikum müssen her. Oder zumindest Stoffe, die auch ein älteres Publikum interessieren, wie etwa die Tragikomödie "Ziemlich beste Freunde", die allein in Deutschland bislang mehr als sieben Millionen Zuschauer gefunden hat. "Es gibt immer mehr ältere Kinobesucher, eine Tatsache, die uns großartige Möglichkeiten bietet", erklärt Nancy Utley, euphorisierte Vizepräsidentin von Fox Searchlight, einer Tochterfirma von 20th Century Fox - die zuletzt mit Filmen wie "The Decendants" oder "Black Swan" diese lange Zeit vernachlässigte Zielgruppe bediente.

Den Fokus nicht mehr ausschließlich auf die unter 30-Jährigen zu richten, macht Sinn: Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist die Frequenz der Kinogänge zwischen 2001 und 2010 nach einer Studie der Filmförderungsanstalt um bis zu 44 Prozent gesunken. Auch weil illegale Filmdownloads und Streaming-Seiten im Internet den Gang ins Kino ersetzen. Wer mit dieser Altersgruppe Geld verdienen will, braucht zum Event erklärte internationale Blockbuster, doch die lassen sich nur bedingt planen und bergen ein hohes finanzielles Risiko. So spielte das mit großem Aufwand beworbene und auf die U-30-Zielgruppe zugeschnittene Fantasyspektakel "Conan der Barbar" nicht einmal ein Drittel der Produktionskosten von 70 Millionen Dollar ein. "The King's Speech" hingegen, Qualitätskino für ein älteres Arthouse-Publikum, brachte es auf 373 Millionen Dollar - bei einem Produktionsbudget von 15 Millionen Dollar. Ein paar Flops der "Conan"-Kategorie können selbst Marktführer in die Insolvenz treiben. Bei Arthouse-Filmen mit ihrem Potenzial, sich generationenübergreifend zum Hit zu entwickeln (siehe: "Ziemlich beste Freunde"), besteht diese Gefahr nicht.

Den Filmfirmen spielt natürlich auch das Phänomen der "jungen Alten" in die Hände, jener Gruppe also, deren Kinder aus dem Haus sind, die über genügend Geld, Freizeit und kulturelles Interesse verfügen und die, anders als die Generationen vor ihnen, mit dem Kino sozialisiert wurden. Die in den 70er-Jahren "Saturday Night Fever", "Der weiße Hai" oder "Der Exorzist" auf der großen Leinwand gesehen haben, für die Kino also ein vertrautes Medium ist, das sie jetzt wiederentdecken. Das Popcorn-Publikum mit seinen Vorlieben für "Twilight", "Harry Potter" oder "Mission Impossible" wird es weiterhin geben, doch die größten Steigerungsraten lassen sich eben nicht hier, sondern bei der Generation seiner Eltern oder sogar Großeltern erreichen. Ein Milliardenmarkt, der inzwischen auch als solcher erkannt wird.

Was für das Kino gilt, lässt sich auf den Bühnen beobachten: Theaterautoren und Komödien-Häuser entdecken die Alten. "Kalender Girls" am Winterhuder Fährhaus gilt als Dauerbrenner, aber auch Stefan Vögels Komödie "Altweiberfrühling", demnächst sogar op Platt als "Lütt Paris" im Ohnsorg-Theater auf dem Spielplan, feiert Triumphe. Isabella Vértes-Schütter, Intendantin des Ernst-Deutsch-Theaters (EDT), hält das Alter für ein gesellschaftlich großes Thema: "Die Menschen werden älter und sind kraftvoller als früher, sie suchen nach neuen Lebensformen." Sie will mit Stücken, wie "Das Haus am See", "Blütenträume", "Wind in den Pappeln" oder der geplanten Uraufführung von "Damen mit Lift" nicht nur das Publikum mit Silberhaar, sondern auch die Jungen erreichen. "Auch bei ihnen kommen die Aufführungen gut an", hat sie beobachtet. "Sie schaffen eine Verbindung zwischen Alten und Jungen, die nehmen dann ihre Eltern oder Großeltern anders oder neu wahr."

EDT-Chefdramaturg Stefan Kroner beobachtet eine Zunahme von Schauspielen, die sich mit Demenz beschäftigen. "Alter wird neu definiert", sagt er. "50 oder 60 zu sein ist heute nicht alt, deshalb denken die Leute über andere Lebensentwürfe nach - was sich in neuen Stücken von Autoren wie Lutz Hübner und anderen spiegelt." Das bedeutet natürlich auch reizvolle Rollenangebote für die älteren Damen in den Schauspiel-Ensembles, die früher nur bei "Arsen und Spitzenhäubchen", als gekrönte Megären in Klassikern, "komische Alte" oder in (Groß)Mütter-Rollen zum Zug kamen.

"Ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel steht unmittelbar bevor", schrieben Opaschowski und Reinhardt 2007. "Die Konzentration auf die Jugend wird Vergangenheit sein, die Älteren sind dagegen eine Zukunftsinvestition." Diese Zukunft, so zeigt der Blick auf aktuelle Kinoprogramme und Theaterspielpläne, sie hat längst begonnen.