Der Filmemacher und Technikfreak Wim Wenders zeigt ab heute seine grandiosen Fotos in der Sammlung Falckenberg in Harburg.

Hamburg. Das größte Mirakel dieser majestätischen Bildersammlung wohnt im zweiten Stockwerk und verbreitet einen Schrecken, wie er nur der finstersten Schönheit vorbehalten scheint. Drei blaustichige Fotos zeigen eine bewaldete, unbestimmte Landschaft. Über jedes der Fotos läuft ein grobkörniger, schmutzig-orangefarbener Streifen, gewellt wie eine Sinuskurve. Die Bilder entstanden im Herbst 2011 in Fukushima, wohin Wim Wenders anlässlich einer Vorführung seines Films "Pina" gereist war. Während in Tokio eine Strahlenbelastung von 0,1 Mikrosievert gemessen wurde, zeigte das Messgerät am fotografierten Ort nahe dem zerstörten Reaktor 8,19 Mikrosievert an. Alle Negative, die der weltberühmte Filmregisseur von seinem Japanbesuch mit nach Hause brachte, waren verdorben. Auf jedem Bild diese unheilvolle Sinuskurve, trügerisch schön. "Ich habe in meinem Leben viele, viele Tausend Meter Film gesehen. So etwas aber noch nie. Man müsste einen Atomphysiker fragen, wie das auf die Bilder gekommen ist."

Wenders streift in Clowns-weiten schwarzen Hosen und in knallblauen Sneakers durch die hohen, bleichweiß getünchten Etagen der Sammlung Falckenberg in Harburg und betrachtet gelassen den Fortgang der Hängung seiner Bilder und Kommentare für die Ausstellung "Places, strange and quiet", die heute Abend eröffnet wird. Die meisten der etwa 60 Bilder wurden noch nie zuvor in Deutschland gezeigt.

Presse und Fernsehteams dürfen den Meister im Halbstundentakt befragen. Bereitwillig spricht er in einem Nebenraum bei Kräutertee über seine Einflüsse und den Stellenwert der Fotografie in seinem Schaffen. Die holländischen Maler waren es, die ihn geprägt haben, viel mehr als die amerikanischen. Dabei wirken manche Einstellungen aus Wenders' Filmen, nicht nur in "Paris, Texas", als habe ihm Edward Hopper die Kamera geführt. "Als ich den gefunden hatte, war ich froh", erzählt Wenders. Keiner habe Hopper damals, Anfang der 70er-Jahre, gekannt, er habe die Museen Amerikas gezielt nach seinen Gemälden abgesucht. "Hopper war mein großer Held."

Wie sehr Wenders die Welt eigentlich mit den Augen eines Malers sieht, wird einem so richtig erst in dieser großartig inszenierten Bilderschau bewusst. Denn in seinen Filmen gibt es ja immer Personen, also Beziehungen, Konflikte, Verhältnisse zwischen den Menschen, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wenn Wenders mit seinen drei Kultkameras Marke Plaubel insDickicht der Städte oder in die Landschaft zieht, stets allein, stets mit Zeit und nie mit Stativ, dann wartet er meist, bis alle Menschen aus dem Sucher verschwunden sind. "Sowie auf einem Foto ein Mensch zu sehen ist, guckt keiner mehr, was sonst noch auf dem Bild ist", sagt der Meister leise. "Sogar wenn bei Caspar David Friedrich ein winziges Männchen am Meer steht, zählt der Rest nicht mehr." Duldet Wenders doch einmal die Anwesenheit von Menschen auf seinen Fotografien, dann zeigt er sie von hinten oder so klein, dass sie kaum mehr zu erkennen sind.

Der Filmemacher Wim Wenders ist ein Technikfreak, der alle Entwicklungen der digitalen Welt mit Freuden mitvollzieht. Der Fotograf Wim Wenders ist ein Fundamentalist des analogen Zeitalters. Im Gespräch verwendet er Worte wie Magie und Zauber, Ehrfurcht und Geheimnis, um das Einmalige und Besondere dieses altmodischen Kunstverständnisses zu beschreiben. Die Möglichkeit, das Digitalbild sofort betrachten zu können, verabscheut er ebenso wie das weite Feld digitalerBildmanipulation: "Fotografieren ist komplett demystifiziert. Das Wunder, dass man die Zeit festhalten kann - und dann ja doch nicht -, ist verloren gegangen. Das Bild, da ist nichts Heiliges mehr dran." Wenders wartet lieber drei Wochen auf die Entwicklung seiner Negative, die er auf Fotoreisen mithilfe immer derselben drei Kameras belichtet. Allenfalls beim Printen seines analogen Materials im High-End-Labor Grieger in Düsseldorf ("Da sind alle Kollegen, auch Herr Gursky") arbeitet Wenders an Farbkorrekturen.

Die Ergebnisse sind phänomenal schön. So hängt im Treppenhaus einextremes Querformat, aufgenommen mit der Panoramakamera, das einen Sonnenuntergang über der japanischen Stadt Onomichi zeigt, einem Ort, den Wenders nur deshalb bereiste, weil dort Anfang und Ende des Films "Die Reise nach Tokio" von Yasujiro Ozu (1953) spielt, "mein Lieblingsfilm aller Zeiten". Der Bildausschnitt: ließe die alten Holländer vor Neid erblassen. Die Farben: ungeschönt und eben deshalb erhebend. Das Licht: als schüfe Gott soeben die Welt ein zweites Mal.

Für Liebhaber des frühen Wenders-Werks empfiehlt sich eine kleine Andachtszeit vor der als Triptychon arrangierten Ausbeute einer 2011 unternommenen Fotoreise in Post-DDR-Gebiet. Es wirkt wie ein stiller Tribut in Farbe an "Im Lauf der Zeit", den legendären, in Schwarz-Weiß gedrehten Film (auch) übers Kinosterben im damaligen westdeutschen Zonenrandgebiet (1976). Zwei Fotos - das eine zeigt den verrammelten Laden der Konsumgesellschaft Ostthüringen, der einst, wie das gut erhaltene Schild mitteilt, Kinderkleidung verkaufte, das andere ein ebenfalls eingegangenes Geschäft mit "Mode für jung und alt" - rahmen eine dörfliche Momentaufnahme. Auf kargem Wiesengrund vor einem in grauem Ostputz vor sich hin starrenden Haus liegt ein Trabi begraben, nur das Dach schaut noch heraus. Wenders gab dem Bild in einem seltenen Anflug von Humor den Titel "Subterranean Homesick Blues".

Reverse Angle (Gegenschuss) lautet der Titel eines frühen Wenders-Films und einer Produktionsfirma, an der er mal beteiligt war. Die Kehrseite vonetwas zeigen: Auch das ist dem Bild-Erzähler Wenders wichtig. Ein starkes Foto in blassen Farben zeigt ein marodes Riesenrad, das wie ein zerfressenes Tier in der armenischen Landschaft steht. Dreht man sich um, sieht man auf der gegenüberliegenden Wand die längst von den Russen verlassenen Kasernen hinter dem toten Vergnügungsgerät.

Wim Wenders: "Places, strange and quiet", Eröffnung heute ab 19.00, Sammlung Falckenberg (S-Bahn Harburg), Wilstorfer Str. 71, Tor 2. Nur Führungen, telefonische Anmeldung erforderlich unter T. 32 50 67 62