Die Freiheit der Dichtung und das Verhältnis von Politik und Kunst: einige Gedanken zu Günter Grass und seinem Text

Hamburg. Die Affäre Grass hat hohe Wellen geschlagen und eine in mancherlei Hinsicht sogar fruchtbare Diskussion ausgelöst: Darf man als Deutscher Israel kritisieren? Die Antwort ist denkbar einfach (selbstverständlich darf man), und die kraftmeierischen oder hysterischen Reaktionen waren stellenweise doch sehr übertrieben - wie das Gedicht ja auch.

Interessant ist die Angelegenheit aber auch in formaler Hinsicht. Ist das überhaupt ein Gedicht, was Grass hier geschrieben hat? Und warum wählte er diese literarische Gattung? Welche Art von Diskurs wurde hier eröffnet, welche Form des Gesprächs gesucht? Sollte die Dichtung als solche behandelt werden und "literarisch" gelesen werden?

Das nicht: Davon zeugen die Äußerungen von Günter Grass, nachdem der Skandal sich ereignet hatte. Nirgendwo zog er sich in den Schutzraum der Kunst zurück. Bleibt die Frage, warum er sich dann mit einem Text, der in fast nichts an ein Gedicht erinnert, aber als solches deklariert ist, zu Wort meldete. Grass' Zeilen haben überhaupt keine poetische Anmutung - und das nicht, weil sie sich ja gar nicht reimen, wie sehr viele Leser schnell festgestellt haben.

Was ist eigentlich ein Gedicht? Die Lyrik ist, neben der Epik und der Dramatik, die dritte literarische Gattung. Ihre genaue Definition ist unscharf umrissen: Oft wird sie als Dichtung bezeichnet oder als Poesie. Poesie bezeichnet die gebundene Sprache, Prosa die ungebundene. "Gebunden" ist die Sprache dann, wenn sie in einer bestimmten metrischen oder rhythmischen Gestalt daherkommt, wenn sie ein Versmaß hat und auf engem Raum viel zum Ausdruck bringt, zum Beispiel durch die Verwendung von Metaphern, die einem Gedicht einen Deutungsraum und Tiefe geben.

Die Poesie arbeitet mit sprachlichen Figuren, die einen lautlichen Effekt haben: der Alliteration zum Beispiel. All das findet sich in dem Grass-Text nicht. Nein, die als "Gedicht" bezeichneten Gedanken in "Was gesagt werden muss" weisen überhaupt keine sprachlich ausgearbeitete Verdichtung auf. Man kann Verse auch Verse nennen (Grass ordnet seinen Text in gesetzten Zeilen; nur darin erinnert er an ein Gedicht), wenn sie metrisch ungebunden sind: Die moderne Lyrik ist oft reimlos und im freien Rhythmus gehalten, der ohne Versmaß auskommt. Verse müssen aber kunstvoll sein oder vieldeutig und nicht so plump wie bei Grass.

In der gestrigen Ausgabe der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" erhob der Autor Louis Begley schwere Vorwürfe gegen Grass, die sich auch auf die Form beziehen: "Grass' Gedicht ist so wenig ein Poem, wie ein Porzellan-Urinal zum Kunstwerk wurde, nur weil Marcel Duchamp beschloss, es als Wasserspiel auszustellen." Er vermutet, "dass wir aus tief in der Geschichte verwurzelten Gründen Gedichte höher schätzen als Leitartikel oder politische Pamphlete und den Dichtern gern prophetische Gaben zutrauen, die weit über die Fähigkeiten von Leitartikelschreibern hinausgehen".

Das mag sein, genauso trifft aber auch zu, dass der dichtende Intellektuelle und intellektuelle Dichter Günter Grass die Kunst der Politik opfert, weil Gedichte noch weniger als Meinungsstücke "ausgewogen" sein müssen. Ein "lyrisches Ich" kann, um ein wenig ketzerisch zu sein, auch mal einfach fabulieren. Andererseits kann Dichtung immer gesellschaftlich interpretiert werden, selbst wenn sie apolitisch ist: Auch das ist ein Statement. Bei einem sensiblen Thema hat Grass die sehr persönliche und innerliche Form des "Gedichts" gewählt, um gleichzeitig eine Art Brandbrief an die Welt zu schreiben. Das ist ziemlich gewagt.