Der Hirsch-Effekt ist ein seltenes Phänomen, das scheinbar alle zehn Jahre um Ostern herum auftritt. Der Hirsch-Effekt ist wie Werwolfwerdung, nur in echt. Mein Cousin Bruno wurde Opfer des Hirsch-Effekts, der ihm erst zu monströsen, hörnernen Wucherungen auf der Stirn verhalf, dann zu einem dichten, beigen Haarbewuchs.

Der Hirsch-Effekt schlägt so unvorhersehbar wie rücksichtslos zu - denn gerade das ist das Hinterlistige des Hirsch-Effekts: Er kommt, wenn man am wenigsten damit rechnet. Gerne über Nacht, aber auch genau jetzt, während Sie das lesen, könnte er Sie befallen. Bruno sagte: "Hab anne Herde Rehes dacht. Schöne, nackte Rehes. Laufense in meine Kopf. Geruch, Waldboden, Waldboden. Immer schneller. Rufich, innerlich: Stopp Rehes, stopp, doch die Rehes laufen zu meine Stirn, und weider und bumm, am nächstes Tag wuchert Geweih."

Bis auf die Beulen an seiner Stirn war Bruno vorerst nichts anzumerken gewesen. Er war seltsam wie immer. Trank Dosenbier, indem er hineinbiss und oben den Verschluss aufriss, sah Fernsehsendungen, in denen möglichst viele möglichst junge Mädchen möglichst wenig anhatten. Ging ab und zu zum Fenster und schoss mit dem Luftgewehr in den Himmel. Eben deshalb heiße es ja Luftgewehr, so Bruno.

Nur nachts war da jetzt dies Knacken. Geweih und Bruno, der äsend und brünftig durch die Wohnung pirschte. Oft am Bett meines Onkels stand und laut schnaubte. Mit jedem Tag wurde Bruno hirsch und hirschiger. Und immer wieder waren wir mit ihm im Wald, doch die Herde verstieß ihn anfangs, weil er nach Bruno roch. Schließlich erschoss mein Onkel ein Reh, mit dem er meinen Cousin ausgiebig abrieb. Seitdem lebt dieser im Wald. An Sonntagen sind wir da, um ihn von einem Hochsitz aus durch ein Fernglas zu beobachten. Er wirkt glücklicher denn je.

Wer mehr wissen will: Am 6. April gibt es in der Astra-Stube einen Vortrag zum Thema Hirsch-Effekt.