Er schrieb sich eine Figur auf den Leib, die er am liebsten selbst gewesen wäre: Old Shatterhand. Mit seiner Fantasie schuf May eine Erfolgsserie.

Die Wände aus dunklen Holzbohlen wie in einer Blockhütte, ein gemauerter Kamin, ein ausgestopfter Grizzly, Jagdtrophäen und Skalpe, allerdings nur aus Rosshaar. Der schummrige Raum gleich links vom Eingang der Villa "Bärenfett" ist menschenleer, aber er scheint angefüllt mit Geschichten. Das Kaminfeuer ist erloschen, trotzdem meint man das Knistern zu hören und das Raunen eines Trappers, der von seinen Abenteuern berichtet. Von gefahrvollen Ritten durch die Weite der Prärien, vom Anschleichen und Gefangennehmen, von bangen Stunden am Marterpfahl und der glücklichen Befreiung in allerallerletzter Minute.

Patty Frank hieß der Trapper, der hier einst am Kaminfeuer saß und den Museumsbesuchern Geschichten erzählte, die ganz ähnlich klangen wie die Abenteuer von Old Shatterhand und seinem Blutsbruder Winnetou. Zwar war Patty Frank Karl May nie persönlich begegnet, hatte aber seine Sammlung indianischer Artefakte an die Karl-May-Stiftung verkauft und war Verwalter des 1928 in Radebeul eröffneten Karl-May-Museums geworden. Inzwischen ist Patty Frank mehr als ein halbes Jahrhundert ebenso tot wie Karl May, der vor genau 100 Jahren, am 30. März 1912, in seinem stattlichen Radebeuler Haus starb.

Aber ist Karl May wirklich tot? Ist der Erfinder von Winnetou und Old Shatterhand, von Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar damals tatsächlich gestorben? Post mortem jedenfalls erfreut er sich eines munteren Nachlebens, um das ihn die allermeisten seiner Schriftstellerkollegen nur beneiden können. 100 Millionen Karl-May-Bücher wurden bis heute allein in deutscher Sprache verkauft, 100 weitere Millionen in fremdsprachigen Ausgaben. Generationen von Kindern haben sich mit den grün eingebundenen Bänden in den wilden Westen der USA geträumt, wo sich Rothäute und Bleichgesichter bekämpften, wo es hinterhältige Kreaturen, aber stets auch großherzige Helden gab, allen voran jenen Deutschen, der seinen Vornamen Karl in Charley anglisiert hatte, von Freund und Feind jedoch ehrfurchtsvoll Old Shatterhand genannt wurde.

Der Häuptling der Deutschen

Karl May bei Familie Felber in Hamburg

Von der Villa "Bärenfett" mit ihrer völkerkundlichen Indianer-Sammlung sind es nur ein paar Schritte bis zum Hauptgebäude des Karl-May-Museums, das zugleich das zentrale Heiligtum aller Karl-May-Liebhaber ist. Wer es nicht glaubt, kann es hier mit goldenen Lettern auf der schneeweißen Fassade lesen. Villa "Shatterhand" prangt da stolz, womit der frühere Hausherr jedem Besucher zu verstehen gab, mit wem er es hier zu tun hatte: Karl May war Old Shatterhand, hatte alles, was in seinen Büchern stand, selbst erlebt und vollbracht.

An diesem Vorfrühlingstag haben nur wenige Besucher ins Karl-May-Museum gefunden, ein älteres Ehepaar aus Süddeutschland, ein Dresdner Rentner, der offenbar schon oft hier war, und eine jung gebliebene Gymnasiallehrerin aus Berlin. Still, fast ehrfurchtsvoll betrachten sie die original eingerichteten und ausgestatteten Wohn- und Arbeitsräume, die so authentisch wirken, dass der Besucher fast meint, Karl May könne jeden Moment wieder zur Tür hereintreten. Der Empfangssalon wirkt so repräsentativ, wie es sich für den Erfolgsschriftsteller gehörte. Hier begrüßte er Besucher, die in ihm Old Shatterhand sahen. 1910 kam zum Beispiel der damals 25 Jahre alte spätere Bundespräsident Theodor Heuß, um dem Helden zu huldigen.

Die Bibliothek ist mit ihrem orientalischen Mobiliar eher das Reich von Kara Ben Nemsi, dem nahöstlichen Alter Ego des Schriftstellers. Bei den mit zahlreichen Anstreichungen versehenen Büchern handelt es sich vorrangig um geografische Werke, Atlanten und Reisebeschreibungen, die Karl May bestens zu nutzen wusste. Und schließlich gibt es das Arbeitszimmer, das gleichfalls exotisch möbliert ist. Hier steht der Schreibtisch, der mit dem dazugehörigen Stuhl beweist, dass May mit weniger als 1,70 Meter Größe zwar keine stattliche Erscheinung, dafür aber ein Sitzriese gewesen ist.

"An diesem Schreibtisch ist 'Winnetou' entstanden", sagt René Wagner, 62, der heutige Hausherr der Villa "Shatterhand". Der gemütliche Sachse, der bestens in die Gesellschaft von Sam Hawkins, Hobble Frank und Tante Droll gepasst hätte, ist Direktor des Karl-May-Museums und Geschäftsführer der Karl-May-Stiftung. Dass er Karl-May-Fan ist, versteht sich von selbst, aber ein Fanatiker ist er nicht. Und auf die Frage, ob Karl May jetzt, angesichts von Globalisierung und Internet, erschwinglichen Fernreisen und "Harry Potter"-Boom, nicht doch langsam in Vergessenheit geraten und damit wirklich sterben könnte, antwortet er ernst und bedächtig.

Er hoffe es natürlich nicht, aber einige Dinge hätten sich schon verändert, meint er. Die Auflagen der Bücher seien rückläufig, ebenso wie die Besucherzahlen im Radebeuler Karl-May-Museum. "1989 hatten wir noch 300 000 Besucher pro Jahr, mit der Wende kam der Einbruch, auch weil die vielen Osteuropäer nicht mehr zu uns kommen konnten", sagt Wagner. Nach der Wende nämlich musste auch in Radebeul mit harter Währung bezahlt werden, die viele Osteuropäer nicht hatten. Aber jetzt, fügt Wagner hinzu, habe das Haus "seit Jahren stabil 60 000 Besucher, was immer noch ein gutes Ergebnis ist".

Geht es Karl May womöglich im 21. Jahrhundert ein wenig so wie den Indianern, die im 19. Jahrhundert in den USA dem Untergang geweiht schienen? Oder muss man über das immer noch große Interesse an diesem Schriftsteller staunen?

Karl May hatte sich mit dem Finger auf der Landkarte und mit erstaunlicher Chuzpe in eine Heldenrolle hineingeschrieben, die ein großer Teil seines Millionenpublikums lange Zeit für bare Münze nahm. Der sächsische Autor aus bitterarmer erzgebirgischer Familie hatte es trotz kleinkrimineller Vergangenheit mit den Mitteln der eigenen Fantasie zum Millionär gebracht. Und trotz rückläufiger Auflagen wird er auch heute noch sehr viel mehr gelesen als ganze Heerscharen hoch geachteter, aber mausetoter Klassiker. Allein 2011 wurde der Name Karl May 24 Millionen Mal gegoogelt, allein drei neue Biografien sind zum 100. Todestag erschienen. Auch in diesem Jahr locken Karl Mays Geschichten wieder Hunderttausende in die Freilichtbühnen von Bad Segeberg, Rathen in Sachsen, ins sauerländische Elspe und nach Dasing bei Augsburg. Was genau macht die Faszination dieses Schriftstellers eigentlich aus? So ganz genau weiß das auch René Wagner nicht. "Für viele Menschen verbindet sich mit ihm lebenslang die Erinnerung an die Kindheit", meint er. Als Kind ist man gern bereit, an die im Wortsinn unglaublichen Fähigkeiten und Abenteuer eines Old Shatterhands zu glauben. Und auch wenn man es später besser weiß, bleibt die Erinnerung schön.

Ende des 19. Jahrhunderts hielten allerdings nicht nur Kinder Old Shatterhands Abenteuer für reale Erlebnisberichte. Karl May steigerte sich in diese Rolle hinein. Er ließ sich als Old Shatterhand fotografieren - mit Bärentöter und Henrystutzen - und hatte manchmal seine liebe Not, sich nicht in den Fallstricken seiner Flunkereien zu verheddern. Einmal behauptete er allen Ernstes, Winnetou habe Dresden besucht - zu einer Zeit, als alle Zeitungen Listen mit auswärtigen Prominenten abdruckten, war das schnell zu widerlegen. In Erklärungsnot geriet er auch, weil er in seiner Villa "Shatterhand" Winnetous berühmte Silberbüchse zur Schau stellte, die er seinem Blutsbruder - wie nachzulesen in "Winnetou III" - doch mit ins Grab gelegt hatte. Er erklärte später, er habe die Silberbüchse vor Grabräubern schützen müssen und sie deshalb wieder ausgegraben.

Aber selbst an der wirklich tollkühnen Behauptung über seine Sprachkenntnisse nahmen die Leser damals keinen Anstoß. 1894 hatte er einem Bewunderer in einem Brief mitgeteilt (Originalschreibweise): "Ich spreche und schreibe: Französisch, englisch, italienisch, spanisch, griechisch, lateinisch, hebräisch, rumänisch, arabisch 6 Dialekte, persisch, kurdisch 2 Dialekte, chinesisch 2 Dialekte, malayisch, Namaqua, einige Sunda-Idiome, Suaheli, Hindostanisch, türkisch und die Indianersprachen der Sioux, Apachen, Komantschen, Snakes, Uthas, Kiowas nebst dem Ketschumany 3 südamerikanische Dialekte. Lappländisch will ich nicht mitzählen."

Und wie viele Sprachen hat er wirklich beherrscht? René Wagner schmunzelt. "Exakt zwei: Sächsisch und Deutsch. Aber die Menschen haben diese Dinge nicht hinterfragt, weil sie seine Bücher eben nicht kritisch, sondern euphorisch gelesen haben."

Um 1900 platzte die Old-Shatterhand-Legende. May, dessen kleinkriminelle Jugendsünden nun ans Licht kamen, wurde als Lügner beschimpft und in gerichtliche Auseinandersetzungen verstrickt, die ihm das Leben vergällten. Der Journalist Rudolf Lebius bezeichnete ihn gar als "geborenen Verbrecher". Dabei hatte sich der Schriftsteller damals längst vom "Wilden Westen" verabschiedet, um die Menschheit in seinem esoterischen und pazifistischen Spätwerk "Empor ins Reich der Edelmenschen" zu führen - nicht nur im Wilhelminischen Deutschland ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen.

Dem Nachruhm hat das alles nicht geschadet. Überlebt haben nicht die "Edelmenschen", sondern Winnetou und Old Shatterhand, Sam Hawkins und Hobble Frank. Um deren künftiges Wohl ist René Wagner, der jetzt ganz auf den Nachwuchs setzt, denn auch nicht bange: Pünktlich zum 100. Todestag werden im Garten des Museums zwischen Villa "Shatterhand." und Villa "Bärenfett" ein Erlebnispfad und ein eigenes Haus für die Museumspädagogik eingeweiht. "Wir setzen durchaus auch auf Harry Potter. Wer sich auf dessen Zaubereien einlässt und dabei lesen gelernt hat, der müsste auch für die Abenteuer von Winnetou und Old Shatterhand empfänglich sein", sagt Wagner.

Sein Wort in Manitus Ohr!