“Ich will schlafen“ heißt der neue Roman der britischen Schriftstellerin Helen Walsh, die mit ihrem Debüt “Millie“ 2006 schlagartig bekannt wurde.

Hamburg. Die junge Frau mit den orangefarbenen Fingernägeln und dem Fair-Trade-Shirt hängt so entspannt, so bestens gelaunt in ihrem Stuhl, als komme sie gerade von einem Spaziergang im Park. Dabei schreibt Helen Walsh über Themen, die alles andere als sonnig sind. Mehr Bartresen als Blümchenwiese. Ihr Debütroman "Millie" über eine selbstzerstörerische Studentin, die sich durch die Pubs von Liverpool säuft und Männer aufgabelt, sorgte bei seinem Erscheinen 2006 für Furore. Erst recht, weil die Marketingabteilung des Verlags es sich nicht nehmen ließ, die autobiografischen Bezüge hervorzuheben. Walsh galt als neue, umwerfend gut aussehende Vorzeigeprominente mit Schwerpunkt Drogen und Sex. Wunderkind und Hassobjekt in einer Person. Die britische Charlotte Roche sozusagen.

Kein Wunder, dass der Großteil der Kritiker enttäuscht war, dass die Autorin sich für ihren neuen Roman das so ziemlich ödeste Thema ausgesucht hat, seit Menschen Bücher schreiben: Mutterschaft. Gibt es etwas Langweiligeres als Texte über die Babys anderer Leute? Über Stillprobleme, Windelinhalte, postnatale Depression? Aber Helen Walsh wäre nicht Helen Walsh, hätte sie ein Babytagebuch mit Schmetterlingscover geschrieben, eine Ratgeberlektüre für flotte Mums. In "Ich will schlafen" (Kiepenheuer&Witsch) geht es um Schlafentzug als Folter, um das große Chaos, das ein kleines Wesen anrichten kann, um unendliche Angst.

"Wenn man versucht, über dieses Thema zu sprechen, lachen die Leute, sie nehmen einen nicht ernst", sagt Helen Walsh. Dass man sich nach allem fühlt - schreien, weinen, zusammenbrechen, weglaufen -, nur nicht nach lachen, weiß Walsh, selbst Mutter eines heute vierjährigen Sohnes, aus eigener Erfahrung. Und sie war erstaunt, wie wenig, besser gesagt: wie verlogen mit der Zeit nach der Geburt umgegangen wird. "Babyblues" hat man sie getauft, was nach bezaubernden, frischgebackenen Müttern klingt, die über ihrem Latte Macchiato zusammenbrechen, weil sie so fertig sind, dass sie nicht mehr in Größe 36 reinpassen. Zeitschriften drucken Bilder von "Celebrity-Mums", wie Walsh sie mit ihrer warmen, leicht angekratzten Stimme mit dem Liverpooler Akzent nennt, die drei Wochen nach der Geburt wieder in Unterwäsche über den Laufsteg rennen.

Walsh hat ein Anti-Baby-Buch geschrieben. Ein Buch, das Fragen aufwirft und keine Antworten kennt. Protagonistin Rachel, Sozialarbeiterin, Single, segelt vorfreudig durch ihre (ungeplante) Schwangerschaft; nach der Geburt ihres Sohnes kommt sie umso jäher in der Wirklichkeit an. Die Tage bestehen aus Stillen. Wickeln. Stillen. Wickeln. Im Kopf ein konstantes Rauschen vor lauter Müdigkeit, sehr bald ist nur noch ein geschrumpfter, angefressener Schatten von ihr übrig. "Eine brandgefährliche Mischung aus roher Emotion und tiefstem Mitgefühl. Dies ist kein Roman über Schmerz oder Einsamkeit, sondern ein Buch über das Leben selbst", lobte der "Independent on Sunday" Walshs Werk.

Die Figuren, die sie entwirft, sind keine Heldinnen, die dem Leser bereits auf den ersten Seiten ans Herz wachsen, sie sind leicht schräg, unzugänglich, tun Dinge, die weder logisch noch nachvollziehbar sind. Es sind Bauchmenschen, den Fuß stets auf dem Gaspedal. Sie selbst empfinde Rachel nicht als selbstsüchtige Mutter, sagt Walsh, sondern vor allem als hilflos: "Ich hatte damals einen Partner und meine Mutter an meiner Seite, Menschen, die mich aufgefangen haben in dunklen Stunden. Rachel hat niemanden. Sie muss sich allein aus diesem Tunnel befreien, aus dem es kein Zurück mehr gibt."

Die 1977 geborene Britin sieht aus wie jemand, dessen Foto man im Worterklärungslexikon neben dem Begriff "cool" abdrucken könnte: fester Blick, das offene Haar gepflegt nachlässig über die Schultern geworfen, die Jeans mehr Bequemhose als Fashion-Statement. Vor der Geburt ihres Sohnes Leo habe sie "Angst gehabt, dass mich das Muttersein als Schreiberin komplett verändert", sagt Walsh. Es hat sie verändert, so wie sich ihr gesamtes Leben verändert hat - eine ungewöhnliche Autorin ist sie noch immer: Ihr Blick auf die Welt ist gnadenlos, ihr Ton bezwingend, die Sätze eine Wucht in ihrem Bemühen um Authentizität. Sie arbeite heute fokussierter, sagt Walsh: "Ich schreibe nur, was ich wirklich will." Und: "Ich weiß es viel mehr zu schätzen, wenn ich mich morgens an meine Computer setzen und arbeiten darf." Walshs Roman handelt davon, was passiert, wenn die Koordinaten des Lebens - Arbeit, Freizeit, Tag, Nacht - verrutschen. Wenn ein Versprechen nicht eingelöst und der Uhrzeiger zum persönlichen Gegner wird. Es ist ein schonungsloses Buch, voller Zweifel und Wut im Bauch. Ob Mutter oder Nicht-Mutter, todmüde oder hellwach, strauchelnd oder glücksverwöhnt: Man sollte es lesen.

Helen Walsh liest am 23. Mai im Literaturhaus.