Das war das alte West-Berlin: Bernd Cailloux erzählt in seinem autobiografischen Roman “Gutgeschriebene Verluste“ von seinem Leben.

Im Verlaufe seines autobiografischen Romans "Gutgeschriebene Verluste" bezichtigt sich Bernd Cailloux, Jahrgang 1943, mehrere Male der Unfähigkeit, sich in Menschen einzufühlen, auf sie zuzugehen: Er beklagt einen fundamentalen Mangel an Empathie. Dafür interessiert er sich umso mehr für sich selbst. Sein neues Buch heißt im Untertitel "Roman mémoire", und seine Bekenntnisse sind literarisch auch in der Tradition Rousseaus zu verorten. Dessen "Confessions", die Lebensbeichte, gilt immer noch als stilbildende Form autobiografischen Schreibens.

Cailloux' bislang letzter Roman "Das Geschäftsjahr 1968/69" war ein Bericht, der die große Erzählung "1968" von der unternehmerischen Seite her beschrieb: Cailloux gründete in den wilden Jahren der Studentenbewegung ein Unternehmen, das Diskotheken mit Lichteffekten ausstattete. Cailloux war es, der das Stroboskop-Lichtgeflatter nach Deutschland brachte. Dass er die Revolte nur als Außenseiter begleitete, als einer, der zwar Hippie war, aber auch ans Geldverdienen dachte, ändert nichts an seiner grundsätzlichen Zugehörigkeit zu den 68ern.

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Er begegnet seiner Generation mit Respekt, und dennoch ist er, für den 1968 vor allem eine Chiffre für das Erstreiten persönlicher Freiheiten ist, jemand, der in seiner Zeit hängen geblieben ist. Das lässt ihn, den Selbstironiker, manchmal in einer verknitterten Haltung erscheinen, trotzig, fatalistisch. Als wäre er ein Verlorener.

Oder gar Verlierer? Eine Wohnung in Berlin-Schöneberg, Auftragsarbeit für das Kulturradio, keine Rentenansprüche, keine Familie, dazu eine alte Erkrankung, die ihn mit einem Male quält - und die Schatten der Vergangenheit, die sich auf die nur zunächst zwanglose Existenz des 60-Jährigen legt. "Gutgeschriebene Verluste", der Titel dieses außergewöhnlichen Buchs, verweist auf das, was in dieser Lebensbilanz unter dem Strich steht: Verlorenes, Defizitäres, das sich der Autor als Gutschrift anrechnen lassen will.

In der Romangegenwart treffen wir den Erzähler in einem Café der Ehemaligen im Westen Berlins: Hier suppt die 68er-Mischpoke noch herum, hier lernt er die anderthalb Jahrzehnte jüngere Ella kennen und lieben, von hier aus startet er seine Exkursionen in die eigene Vita.

Die "große Zeit" wird irgendwo Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre verortet, als er in der Boheme West-Berlins einen Neuanfang machte. Als Herumtreiber war er in die Frontstadt gekommen, als Nachtmensch, als Drogenesser, als sich in einer verfrühten Midlife-Crisis befindlicher Anfangdreißiger und irgendwie auch als Flüchtling vor dem Finanzamt Hamburg-Eimsbüttel. Frisch in Berlin, kommt ihm der Gedanke, nach fast acht Jahren Hamburg, wo er nach Stationen in Düsseldorf und Bremen "einfach keine Wurzeln (hat) schlagen können, eine große Liebe und damit auch die Lieblingsstadt für immer verspielt zu haben ...".

Hochdramatisch ruft der immer noch junge Mann auf den Elbbrücken noch einmal bei seiner Verflossenen an - vorbei, bye-bye. Wirklich unschuldig, empfänglich, im Werden begriffen, euphorisch war dieser Mann vielleicht am ehesten dort, wo er zu ebendiesem Mann wurde. Cailloux' Erzählstil ist kühl, abgeklärt und manchmal dennoch hoffnungslos nostalgisch, ohne auf das Distanzierungsverfahren der Ironie zu verzichten. So muss es gewesen sein in der abgeschnittenen Stadt, die heute eine Metropole ist - "das Schöne in WestBerliner Zeiten war ja, dass man sich um Ost-Berlin nicht zu kümmern brauchte".

Also lebte man nachts und verdämmerte die Tage, machte in Subkultur, während andere Karriere machten. Mit der Wende kam das neue Berlin, und die 68er waren, sofern sie nicht ihre Ideale der Zeit anpassten und Karrieren anschoben, endgültig museale Figuren. Obwohl der Lebenslauf des Erzählers doch typisch für die Singlestadt Berlin zu sein scheint: Er lebt in serieller Monogamie. Ella, die neue Lebenspartnerin, tut selbiges; freilich hat sie ein Kind allein großgezogen. Die anstrengende Beziehung zu der hysterischen Frau beschreibt der eigenbrötlerische Erzähler mit trockenem, hintergründigen Humor. Ella ist es, mit der er, zum ersten Mal in seinem Leben, in seinen Geburtstort Erfurt reist. Dort verbrachte er nur einige Monate, dann verließ die Mutter die Familie. Die Bitterkeit des Erzählers ist von der selbstreflexiven Sorte: Sie hält das Selbstmitleid in Schach. Trotzdem muss die frühkindliche Prägung, muss das Verlassenwerden als Erklärung für die mangelnde Bindungsfähigkeit herhalten.

Cailloux schont sich nicht: In "Gutgeschriebene Verluste" lässt er einen Bruder im Geiste auftreten, einen (erfolgreichen) Schriftsteller, der ihm im großen Finale, nach wieder einmal gescheiterter Beziehung, sagen darf: "Du bist ein verbohrter Romantiker, ein Selbstverschleierer, der hundert Kommentare in korrektem Radiosprech verfasst, und trotzdem noch immer dieser Theatralik von Achtundsechzig ff. nachhängt ..." Als wäre 1968 ein Virus. In einer Drogennacht hat er sich Hepatitis eingefangen, sie holt ihn 30 Jahre später ein. Muss er das symbolisch sehen? Wahrscheinlich nicht. Aber er tut's, selbstquälerisch, wie er ist, und auch ein wenig dramatisch.

"Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts begriffen", heißt es an einer Stelle.

Bernd Cailloux: "Gutgeschriebene Verluste". Suhrkamp, 270 Seiten, 21,95