Der Hamburger Wolfgang Herrndorf erhält für “Sand“ den Preis der Leipziger Buchmesse, sein Roman “Tschick“ war 2011 nominiert

Leipzig. Ein Mann, der in der Wüste sein Gedächtnis verliert und es halb verzweifelt, halb fatalistisch wiederzufinden versucht: Darum, unter anderem, geht es in Wolfgang Herrndorfs meisterlichem Roman "Sand". Das Buch ist von rätselhafter Schönheit, nicht leicht auf einen Begriff zu bringen, eine Fundgrube für leidenschaftliche Textdeuter obendrein. Und seit gestern preisgekrönt: Für seine vierte Veröffentlichung wurde dem 1965 in Hamburg geborenen Schriftsteller der mit 15 000 Euro dotierte Preis der Leipziger Buchmesse zuerkannt.

Für den an einem Hirntumor erkrankten Herrndorf, der zum zweiten Mal in Folge in Leipzig nominiert war, nahm Robert Koall, Chefdramaturg am Staatsschauspiel Dresden, den Preis entgegen. Die Jury lobte in ihrer Begründung die erzählerische Eleganz und Leichtigkeit Herrndorfs und seinen Sinn für Komik: "Man folgt der in eine Albtraumszenerie geratenen Hauptfigur des Romans auch in den abstrusesten Szenen." Herrndorfs Werk biete allerbeste Unterhaltung und unterscheide sich doch deutlich von "Tschick", dem 2011 nominierten Roman; in dieser Vielfalt zeige sich, "dass Herrndorf ein großer Erzähler ist".

Das ist er in der Tat. "Sand" ist eine faszinierende Mischung aus parodistischem Agententhriller und Schelmenroman, die formal und inhaltlich Anleihen beim B-Movie nimmt und die Qualitäten eines Kultbuchs hat. Es ist witzig, kurzweilig und originell. Herrndorfs Personal besteht zu einem großen Teil aus Knallchargen, die eine fragwürdige Agenda haben und allesamt nicht zu den Guten gehören. In der flimmernden Hitze der Wüste, durch die der namenlos bleibende Protagonist hastet, spiegelt sich auch die Identitätssuche des Menschengeschlechts: Wer war ich gleich noch mal? Und wo will ich eigentlich hin?

Und bin ich gut, oder bin ich böse? Der Held steht vor einem Puzzlespiel, bei dem er gleichsam mit schwitzenden Händen sein Leben zusammenzusetzen sucht. Der Leser ist dabei so ratlos wie der Mann in der Wüste. Die Erzählweise ist raffiniert, weil sie zum einen unweigerlich zur Identifikation mit der vorderhand sympathisch wirkenden Hauptfigur einlädt, gleichzeitig aber völlig im Unklaren lässt, ob der Held die Parteinahme des Lesers verdient. Selten war eine Romanfigur so leer wie hier, und seltener ist man ihr ähnlich blind gefolgt.

Dabei befindet sie sich in einem wahren Gruselkabinett, dessen Gestalten mit Dämlichkeit geschlagen sind oder finstere Aufträge haben.

Die Story spielt 1972 in einem nordafrikanischen Land. Während in München die Olympischen Spiele von dem Anschlag auf die israelische Mannschaft überschattet werden, sterben in einer Hippie-Kommune mitten in der Wüste bei einem Massaker einige Bewohner. Der Täter soll ein Junge namens Amadou Amadou sein, der von den sinistren Polizisten Polidorio und Canisades verhört wird. Kaum ist man im Setting, legt Herrndorf eine weitere Fährte aus. Plötzlich geht es um einen Koffer voller DDR-Geld, hinter dem zwielichtige Gestalten her sind. Gilt das auch für die blonde Amerikanerin Helen Gliese, die vorgibt, Kosmetik-Produkte zu vertreiben? Was hat sie mit dem Atomschmuggel zu tun, in den der unter Amnesie leidende Held mutmaßlich involviert ist? Steht eigentlich irgendjemand auf der Seite der Guten? Höchstwahrscheinlich nicht. Dem Lesevergnügen mit diesem aberwitzigen Roman tut dies freilich überhaupt keinen Abbruch.

In der Kategorie Belletristik waren neben Herrndorf Sherko Fatah ("Ein weißes Land"), Anna Katharina Hahn ("Am schwarzen Berg"), Jens Sparschuh ("Im Kasten") und Thomas von Steinaecker ("Das Jahr in dem ich aufhörte mir Sorgen zu machen und anfing zu träumen") mit ihren aktuellen Büchern nominiert. Steinaecker und Hahn waren zuletzt auch gute Chancen auf den Gewinn der renommierten Auszeichnung eingeräumt worden. Durchaus zu Recht hatte Herrndorf aber vorher als Favorit gegolten - auch wenn die Entscheidungen der Jury keineswegs statistisch oder sonst irgendwie vorhersagbar sind, sondern stets den kaum einsehbaren subjektiven Leseerfahrungen folgen.

Wie bereits im vergangenen Jahr lag Herrndorf übrigens in der Gunst des Publikums vorne: 32 Prozent der Leser votierten im Internet für den in Berlin-Mitte lebenden Autor, der der Künstlervereinigung "Zentrale Intelligenz Agentur" angehört.

Den in Reinbek beheimateten Rowohlt-Verlag machte das Gremium gestern gleich zweimal glücklich: Neben Herrndorf wird bei Rowohlt auch der große ungarische Romancier Péter Nádas verlegt. Dessen monumentale "Parallelgeschichten" wurden von Christina Viragh ins Deutsche übertragen. Fünf Jahre saß die ungarisch-schweizerische Übersetzerin an dem 1700 Seiten dicken Opus magnum. Dafür bekam sie nun den Preis für die beste Übersetzung. Der Preis für das beste Sachbuch (für den auch der in Hamburg lebende Germanist Manfred Geier nominiert war) wurde dem Berliner Historiker Jörg Baberowski für seine Studie "Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt" zuerkannt.

Man darf annehmen, dass der Belletristik-Preisträger Herrndorf die feierliche Verleihung live im Internet verfolgte. Der nach eigenen Angaben aus "kleinbürgerlichen Verhältnissen" stammende Autor arbeitete nach seinem Kunststudium zunächst als Illustrator, unter anderem für das Satiremagazin "Titanic". Als Schriftsteller bekannt wurde er mit seinem 2010 erschienenen Bestseller "Tschick". Der Coming-of-age-Roman ist eine hinreißende und zeitgemäße Version von "Tom Sawyer und Huckleberry Finn" - in beinah allem also das Gegenteil des schwarzhumorigen "Sand".

Dessen Fertigstellung war ein Wettlauf gegen die Zeit. Auf seinem Internet-Blog "Arbeit und Struktur" berichtet Herrndorf auch vom Fortgang seiner Krankheit. Robert Koall, Herrndorfs Stellvertreter in Leipzig, überbrachte in der Glashalle der Leipziger Messe die besten Grüße des Autors - und zitierte im Auftrag Herrndorfs die Redewendung eines afrikanischen Wüstenvolkes: "Die Sonne geht immer hinter der Düne unter, die dir gerade am nächsten ist." Wie schön, dass sie am nächsten Tag auch wieder aufgeht.