Die Kultur-Subventionen halbieren, um das System zu reformieren? Eine Polemik in Buchform greift vermeintlich heilige Kühe an.

Hamburg. Pünktlich wie die Frühjahrsdiät in den Frauenzeitschriften tauchen alle Jahre wieder Klagen darüber auf, wie teuer, sinnlos und verschwenderisch in Deutschland doch die Subventionierung von Kultur sei. Selbst ernannte Richter lamentieren, wie schlecht das Angebot von staatlich, also im Zweifelsfall stattlich geförderten Theatern, Opern, Museen und Bibliotheken sei. In ihren Klageschriften steht stets auch, wie viel bessere Kulturangebote man doch mit deutlich geringeren Ausgaben hinbekommen könnte.

Die vier Autoren Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel und Stephan Opitz, deren Namen selbst den umtriebigsten Kulturmenschen bisher unbekannt waren, denen der aktuelle "Spiegel" aber sechs Seiten schenkt, sehen nun in ihrem Buch "Kulturinfarkt" den staatlich finanzierten Kulturbetrieb als "Patient", dem man die Hälfte seiner Theater, Opern und Bibliotheken schließen müsse, um ihn zu reanimieren. Denn es gäbe von allem zu viel, überall das Gleiche, und das meiste davon sei auch noch zu teuer.

Kultur empfinden die vier Not-Ärzte als "Medium der sozialen Differenzierung", also salopp gesprochen als Eliteunternehmung. Kulturpolitik beurteilen sie als "Lähmung", da sie Strukturen - also verschleppte Übel - am Leben erhält und das Angebot statt die Nachfrage bediene. Ihr Patentrezept dagegen: Aderlass, als Radikalkur gegen die Verfettung an Kopf, Haupt und Gliedern des chronisch kranken Systems.

Ach, wenn es doch so einfach wäre.

Zunächst einige Zahlen: 950 000 Menschen arbeiten in Deutschland in der Kulturwirtschaft. Sie machen 135 Milliarden Euro Umsatz im Jahr, mit einer Bruttowertschöpfung von 35 Milliarden Euro. Sie liegt damit zwischen der Chemie und der Energiewirtschaft.

9,2 Milliarden Euro geben Bund, Länder und Gemeinden jährlich für Kultur aus. Ein Drittel davon fließt in Theater und Musik, 18 Prozent in die Museen, 15 Prozent in die Bibliotheken.

9,2 Milliarden Euro? Hatte nicht allein das Land Bayern für die Rettung der Bayerischen Landesbank zehn Milliarden Euro aufgebracht? Musste nicht der Steuerzahler dafür 2011 sogar 340 Millionen Euro Zinsen zahlen?

Oder, um es mit einem von vielen möglichen Gegenbeispielen auf Hamburg herunterzubrechen: Vier Millionen Euro haben Hamburger Steuerzahler 2011 für den "Zug der Ideen" ausgegeben, der sechs Container durch Europa fuhr, in denen Installationen über Mülltrennung und Wasserqualität präsentiert wurden. Wem nützte das? Und warum schreit niemand auf, wenn der Umzug der Stadtentwicklungsbehörde 192 Millionen Euro kostet? Was sind dagegen beispielsweise die 138 000 Euro Zuschuss ans Literaturhaus für Programmarbeit und Bauunterhaltung?

Die vier Infarkt-Diagnostiker kalkulieren in ihrer Polemik auch mit dem angeblichen Unbehagen einer vermeintlichen Mehrheit, die sich von dem realen Kulturangebot überfordert, verwirrt oder ausgegrenzt fühlt. Im Sprachduktus jener Unternehmensberater, die immer wieder, Allwissen vorgaukelnd, von themenfernen Finanzpolitikern auf Theater und Museen gehetzt werden, um dort Prasssüchtige auf frischer Tat beim Vergolden von Türklinken zu ertappen, werden "Was wäre, wenn ...?"-Szenarien erläutert: Würden alle Subventionen um 50 Prozent gekürzt, könnten die Überlebenden dieses Massakers wieder fidel überleben. Allerdings würden wohl die Entlassenen zu Teilen der Sozialhilfe anheimfallen. Man will stattdessen die Laienkultur fördern, eine global ausgerichtete Kulturindustrie anschieben und auch die Hochschulen zukunftsfähig machen, an denen Kreativpersonal ausgebildet wird. Mit einem Satz: Im Himmel wäre Jahrmarkt.

Doch bei dieser Förder-Fantasie wird nicht bedacht, dass Kultur in der Kulturnation Deutschland Ländersache ist und ihre Etats nicht mit zentralistischer Allmacht gemeuchelt werden können. Vor allem aber: Wer glaubt, dass gestrichene Subventionen nicht für immer weg sind, der glaubt auch noch an den Osterhasen.

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Sparen an der Kultur ist kein Zeichen von materieller Armut, sondern ein geistiges Armutszeugnis. Über Musik, Malerei, Theater und Tanz definiert sich die Menschheit seit Tausenden von Jahren. In einer Zeit, in der Angestellte der HSH Nordbank nur mit Bonuszahlungen zum Arbeiten angetrieben werden können, in der Kirche, Staat und Familie an moralischer Legitimation und glaubhafter Wertevermittlung eingebüßt haben und das Fernsehen mehr Verblödendes als Anregendes sendet, müssen Kunst und Kultur für moralische und ästhetische Orientierung sorgen. Das ist ein gesellschaftlicher Konsens, für den sich Tausende von Künstlern aller Sparten oft, viel zu oft brutaler Selbstausbeutung unterwerfen. Reich werden hier mit der Kultur nur sehr wenige Menschen. Glücklich, trotz alledem, sehr viele. In der ach so freien Wirtschaft sieht das ganz anders aus.

Kultur ist unser Überlebenskapital, keine hübsche Dekoration, die man sich gönnt oder die man lassen kann. Doch dass man an unliebsamen Theater- und Operninszenierungen, an altmodischen Museen sparen könne, damit treffen Populisten gern auf Volkes Stimme. Aber ob man mit dem Sparen an knapp zwei Prozent der Gesamtausgaben dieses Landes, das mit 2080 Milliarden Euro verschuldet ist, wirklich Einsparungen erreichen kann, bleibt fraglich.

Neben dem Gejammer über den kulturellen Kahlschlag, dessen verheerende Wirkung sicher zu spät, nämlich erst in ein paar Jahren, erkannt wird, darf andererseits eines nicht vergessen werden: Wie notwendig es ist, im Zusammenhang mit Subventionen über Qualität zu sprechen. Es kann nicht sein, dass ausgerechnet im Bereich der Kunstförderung alles gleich wichtig sein soll, dass sich jede Institution ein eigenes Publikum und ein spezifisches Milieu zuordnet und daher für ihre Veranstaltungen Minderheitenschutz - soll heißen Art-Erhaltung - einklagt. Doch diese Debatten werden landauf, landab längst geführt. Die schmerzhaften Einschnitte passieren schon lange.

Nirgendwo herrschen qualitativ so große Unterschiede wie in der Kunst. Mögen sich Autos an Prototypen und Äpfel an der EG-Norm messen lassen. Die Kunst unterliegt immer dem Diktat des Werturteils. Deshalb müsste eine sinnvolle Spardebatte, so schmerzhaft sie auch sein mag, vor allem dazu dienen, im Zusammenhang mit Kunstförderung auch wieder nach Qualität zu fragen. Wie wenig hilfreich hierbei das Kriterium des Publikumszulaufs sein darf, lässt sich am ehesten mit einer Frage August Everdings illustrieren. Der legendäre Bühnenvereins-Präsident verglich die 2000-jährige Geschichte des Christentums mit der 2500-jährigen Geschichte des Theaters: "Wollen Sie vielleicht Kirchen schließen, weil so wenig reingehen?"

Haselbach, Klein, Knüsel, Opitz: "Der Kulturinfarkt" Knaus-Verlag, 288 Seiten, 19,99 Euro