Im Sachbuch “Weiße Magie“ widmet sich der Autor Lothar Müller dem Grundstoff der Moderne und stellt fest: Das Gutenberg-Zeitalter ist nicht vorbei.

Hamburg. Mit der Ankunft und dem Erfolg eines neuen Mediums treten stets zwei Typen auf den Plan: der Euphoriker und der Kulturpessimist. Ersterer begrüßt begeistert das Neue, während Letzterer von quälenden Verlustängsten heimgesucht wird. Nüchtern die Zeitenwende zu kommentieren, beansprucht keiner von beiden. Wie steht es also mit dem Papier, diesem uralten Stoff, einst so wichtig wie Brot und Wasser? Ist es dem Tode geweiht? Ist das schade oder wunderbar? Machen die Computer ihm den Garaus?

Der bekannteste aller Medientheoretiker, der Kanadier Marschall McLuhan (1911-1980), prägte einst den Begriff der "Gutenberg-Galaxie". 1962 war das, damals schickte sich das Fernsehen an, zum neuen Leitmedium zu werden. McLuhan würdigte die Bedeutung des Buchdrucks, der die massenhaft gedruckten Buchstaben in die Welt brachte - Literalität löste die Mündlichkeit ab. Gleichzeitig beerdigte McLuhan das Medium Buch, indem er das Ende des Gutenberg-Zeitalters flugs mit ausrief.

Es waren die Bildschirme, die unsere Gesellschaft in den 60er-Jahren fluteten und weiterhin fluten. Was früher das Fernsehen war, sind heute Laptop und iPad: Vermittler und Zugänge zu unserer Realität, die dem Papier den Rang abzulaufen scheinen.

Wir lesen neuerdings die Zeitung am Bildschirm, dabei lieben wir, im Grunde, Papier. Weil unsere Kultur aus dem verdichteten Faserfilz (Papier besteht aus Zell- und Holzstoff) gemacht ist: Ohne diese Erfindung wären wir nicht die, die wir sind. Der Journalist Lothar Müller, Jahrgang 1954, hat seine Leidenschaft für Papier jetzt in einem ganzen Buch zum Ausdruck gebracht. (Das ist wörtlich zu nehmen, übrigens: als E-Book ist es nicht erhältlich.) "Weiße Magie. Die Epoche des Papiers" ist eine umfassende Studie, die die Erfolgsgeschichte ausführlich erzählt. Und zwar, das ist wichtig, unabhängig von der Geschichte des Buchdrucks.

Papier wurde erstmals im zweiten Jahrhundert vor Christus in China hergestellt, über Arabien kam es im Mittelalter ins Abendland.

Die Geschichte dieses Grundstoffes der Zivilisation reicht also weiter zurück als Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks.

Nicht nur das gedruckte Papier brachte Wort und Bild in Umlauf, sondern auch das ungedruckte. Papier ist, so sieht es Müller, ein universelles Medium, das sich in unsere Kultur so erfolgreich einnistete, weil es jeden Platz besetzte, der sich ihm nicht widersetzte. Der Prozess der Moderne führte den Triumphzug des Papiers mit sich - und umgekehrt. Banknoten, Geschäftsbücher, Akten, Gesetzestexte, Briefe, Zeitungen: Das Papier tauchte nicht über Nacht auf, aber es kam in massenhafter Ausführung über uns. Jahrhundertelang war es aus der Gesellschaft nicht wegzudenken, es hing unmittelbar mit den kulturellen Praktiken zusammen. Die Erfindung war gleichbedeutend mit einer papierenen Invasion. Die war so nachhaltig, dass Papier nicht verschwinden wird. Das glaubt zumindest Müller, dessen kundiger Gang durch die Geschichte seines "magischen" Gegenstands zwei Wegweisern folgt: der technologischen Entwicklung und der literarischen Reflexion. Müller ist von Hause aus Literaturwissenschaftler und Kritiker, und so verwunderte es nicht, wäre er von den Büchern selbst zu seinem Stoff gekommen.

+++ 460 Bewerber für Preis der Leipziger Buchmesse 2012 +++

Wenn man sich quer durch die Literaturgeschichte liest, stößt man auf die Motive des Papiers und des Schreibens. Das alles in den wirklich großen, wichtigen Werken: in "Tausendundeine Nacht", bei Cervantes, Jean Paul, William Gaddis und James Joyce. Die Gattung des Briefromans ("Die Leiden des jungen Werther") ahmte die auf Papier basierende Kommunikationsform "Brief" gleich ganz nach. So gab das Papier den Dichtern auch ästhetische Impulse.

"Weiße Magie" ist für den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse nominiert, der in der kommenden Woche vergeben wird. Verdient ist das auch deswegen, weil die Studie die "Ära des Papiers" auch technisch genau in den Blick nimmt. Der Aufschwung der europäischen Papiermühlen und die zunächst mühselige (Papier wurde aus einer Art Lumpenbrei von Hand geschöpft), dann maschinelle Arbeit der Papiermacher haben die Epoche des Papiers erst ermöglicht.

Was ist so faszinierend an Papier? Eigentlich erst einmal gar nichts, wenn man ehrlich ist. Es gehört ja zu unserem Alltag. Es liegt auf unserem Schreibtisch im Büro. Man kann viel damit machen. Darauf schreiben, per Hand manchmal. Meistens schiebt man es aber in den Drucker und beschriftet es mit dem Computer. Man kann es zerreißen oder ein Schiffchen mit ihm bauen.

Allein die Erfindung der Schreibmaschine löste übrigens einst Debatten aus: Wie stets bei einer technischen Neuerung verteufelten viele das plötzlich auftauchende Gerät, denn mit der Handschrift verschwand auf dem beschriebenen Papier auch die Persönlichkeit desjenigen, der den Stift führte.

Die Magie liegt also, schließt man bei der Lektüre von Müllers unterhaltsamem und klugem Buch, in der kulturgeschichtlichen Bedeutung und nicht so sehr in den Papierstapeln in unseren Schubladen. Dass sie dort, angesichts der digitalen Konkurrenz von E-Book und E-Mail im Verschwinden begriffen sind, nimmt Lothar Müller übrigens, Jacques Derrida zitierend, gelassen zur Kenntnis: Das Papier sei auf dem Rückzug aus den Schlüsselpositionen, verschwinde aber nicht. "Wir schreiben und lesen auf analogem Papier, und wir schreiben und lesen auf elektronischem Papier. Wir leben, bis auf Weiteres, immer noch in der Epoche des Papiers", schreibt der Journalist Müller.

Das klingt einleuchtend, obwohl man bei einem Zeitungsmann automatisch davon ausgeht, dass er zu Papier eine emotionale Bindung hat. Darüber hinaus gehört Müller freilich weder zu den Euphorikern noch den Kulturpessimisten: Seine fundierte Statusmeldung der aktuellen Kräfteverhältnisse in der Medienkonkurrenz läuft auf die einzig vernünftige Schlussfolgerung hinaus: Das Analoge (Papier) und das Digitale (Bildschirm) werden in Zukunft friedlich koexistieren.

Lothar Müller: "Weiße Magie. Die Epoche des Papiers". Hanser. 384 S., 24,90 Euro