Die Helden in Jennifer Egans preisgekröntem und humorvollem dritten Roman “Der größere Teil der Welt“ sind hemmungslos nostalgisch.

Ein Roman, der mit einem Handtaschenraub auf der Damentoilette beginnt, kann nicht ganz schlecht sein. Und je mehr Seiten man liest im ersten Kapitel von Jennifer Egans Roman "Der größere Teil der Welt", desto interessanter wird sie, die Geschichte von der Mittdreißigerin Sasha, die Sonnenbrillen klaut, Schlüsselbunde, Billigkullis und Kinderschals; in diesem Fall pflückt sie unbemerkt eine zarte Brieftasche vom Fußboden der benachbarten Kabine auf.

"Persönliche Herausforderung" hat Sashas Therapeut Aktionen wie diese getauft, die dazu dienen, dem Kaufhausnachmittag einen Kick zu verleihen, das öde Date mit einem Fitnessstudiofreak durch einen kleinen persönlichen Triumph aufzuhellen. Der einzige Nachteil dieser packenden, dicht geschriebenen Szene zwischen Sicherheitsleuten in der Hotellobby, Therapeutencouch und schließlich einem nächtlichen Schaumbad im Appartement in der Lower East Side: Sie ist viel zu schnell vorbei.

+++ Pulitzer-Preis für New Yorker Autorin Jennifer Egan +++

Einem Dutzend Figuren folgt Jennifer Egan in ihrem Roman; man begegnet ihnen wieder, in einer anderen Zeit, einer anderen Perspektive. Ihre Wege kreuzen sich mitunter, die einzelnen Biografien sind durch lose Fäden miteinander verwoben. Da wäre etwa Bennie Salazar, schwermütiger Musikmanager, früherer Punk-Rocker und Sashas übergriffiger Ex-Chef. Streut Goldflocken zur Potenzsteigerung in seinen Kaffee und spürt Bands hinterher, die Nonnenchoräle vertonen und jene Zeiten, in denen sie Platten verkauften, lange hinter sich haben. Oder Jocelyn, das späte Hippiemädchen mit der leeren, kleinen Stimme, die bei der Männerwahl immer den Kürzeren zieht, bis sie den reichen Plattenboss Lou kennenlernt - der sich im Nachhinein doch nicht als der Glückstreffer erweist, der er auf den ersten Blick zu sein schien.

Gemeinsamer Ausgangspunkt dieser Jahre später in alle Windrichtungen verstreuten Menschen ist ihre Punk-Zeit in San Francisco Ende der 70er-Jahre. Und so wie die damals in einer Laune gegründete Band The Flaming Dildos ihren Zenit längst überschritten hat (genau genommen gab es das zu keinem Zeitpunkt: einen Höhepunkt in der Bandgeschichte), so wandeln auch Egans hemmungslos exzentrische Protagonisten auf den Spuren ihrer Vergangenheit, als wären sie gefangen in einer Zeitschleife. In Minderwertigkeitskomplexen und der Hölle der versteckten Gefühle.

"Der größere Teil der Welt" handelt nur vordergründig von Musik, vor allem geht es um Sehnsucht, Nostalgie, Erinnerungen. "Ich wollte ein Buch schreiben, bei dem man den Lauf der Zeit spürt", hat die Autorin in einem Interview erklärt. Mit diesem Ansinnen komponiert sie Lebensgeschichten von Menschen, die nicht synchron sind mit der Welt, springt in der Chronologie munter vor und zurück, wechselt Erzählformen und legt ihren Figuren Sätze wie diese in den Mund: "Wie bist du so alt geworden? Ist es auf einmal passiert, an einem Tag, oder bist du ganz allmählich verfallen?" Es ist ein emotionales Buch geworden, ein ernstes und erwachsenes. Egan - 1962 in San Francisco geboren, heute lebt sie mit Mann, einem Theatermacher, und zwei Söhnen in Brooklyn - wurde dafür im vergangenen Jahr mit dem renommierten Pulitzerpreis ausgezeichnet.

Zuvor hat sie zwei Romane verfasst ("Die Farbe der Erinnerung", "Look at Me") und Artikel für das "New York Times Magazine" geschrieben: über das Doppelleben homosexueller Jugendlicher im Internet und manisch-depressive Kinder. Sie ist eine zupackende Erzählerin, keine, die auf experimentelle Formen versessen ist. Fußnoten, ein Kapitel geschrieben im Stil einer Power-Point-Präsentation - das alles ist weniger selbstreferentieller Selbstzweck als ein Mittel, das weitverzweigte Geflecht aus Ex-Frauen, Ex-Geliebten, Kindern, Unbekannten, Nachbarn, Nebenfiguren in ein vielstimmiges Ganzes zu packen. In eine knapp 400-seitige Geschichte, die zeigt, "was Zeit bei den Menschen anrichtet".

Die eigene Biografie hält die Schriftstellerin bewusst aus ihren Büchern heraus. Sie liebe ihr Leben, hat sie einer Zeitung erklärt, "aber ich will es nicht zweimal leben". Umso mehr stürzt sie sich in die Paralleluniversen ihrer Figuren, irgendwo in den Busch, wo ein Kriegsverbrecher sein Image aufzupolieren versucht, oder in ebenjene Wohnung in der Lower East Side, in der die kleptomanische PR-Agentin Sasha lebt. Jene hatte einst wie eine Zwischenstation auf dem Weg zu etwas Besserem gewirkt, bis klar war: Es ergibt sich nichts Besseres.

Egan entwirft Figuren, die ihre Jugend verklären (auch wenn es da wenig Verklärenswertes gibt), das Alter als ungerechte Last empfinden. Sie versuchen, den Demütigungen des Alltags standzuhalten, schlagen sich herum mit unterbezahlten, unbezahlten, übertrieben bezahlten Jobs und hängen der Illusion an, sie hätten noch alle Zeit der Welt, während die Chancen vorbeifliegen. Straucheln, stürzen, wieder anfangen - nach diesem Prinzip hangeln sich die Glücksucher durch die kalifornische Musikszene, das New York der 90er-Jahre und die klimageschädigte Stadt der nahen Zukunft.

Nun irrt, wer glaubt, bei dem außergewöhnlichen Buch "Der größere Teil der Welt" gäbe es nichts zu lachen.

Überhaupt ist das Buch mitnichten so unzugänglich und verkopft, wie sein Titel vermuten lässt. Durch Egans feine Beobachtungsgabe und ihre geschliffene Sprache ist ein Roman entstanden, der nicht pessimistisch oder gar nostalgisch von enttäuschten Glücksversprechen handelt, sondern vor allem vom Wahnsinn, den Ansammlungen schierer Lebenslust und unfreiwilliger Komik, die sich hinter dem vermeintlichen Glück verbergen und immer wieder um die Ecke lugen.

Jennifer Egan: "Der größere Teil der Welt", übers. v. Heide Zeltmann, Schöffling, 392 S., 22,95