Einst war Schwerin als fürstliche Residenz eine Kulturhochburg. Doch jetzt müssen Bühnen schließen. Wie viel Kultur braucht das Land?

Schwerin. Dieses Stimmzimmer steht unter Denkmalschutz". In vielen anderen Theatern wäre dieses Schild an einer Orchestergarderobe einer dieser Späßchen, die man unter Künstlern so macht. Im Staatstheater Schwerin findet das niemand mehr lustig. "Dit is allet noch Baujahr 1938", brummt Intendant Joachim Kümmritz über das Vorkriegsknarren des Bodens hinweg. Vor wenigen Tagen erst ist sein 1886 eröffnetes Fünf-Sparten-Haus, direkt neben dem historischen Schloss, knapp an der Insolvenz vorbeigeschrammt. Wieder mal und wieder nur ganz knapp. Bislang musste noch nirgendwo ein Staatstheater Pleite anmelden und damit den Staat blamieren.

1,4 Millionen Euro zusätzlich haben die Schweriner Stadtvertreter bis Ende 2012 für ihre Bühne bewilligt, regulär gibt die Stadt 6,6 Millionen Euro pro Jahr und das Land etwa 9 Millionen Euro. Das rettet vorerst, doch auf Dauer ist diesem System mit Geldspritzen hier und da längst nicht mehr zu helfen. Als Antwort auf die Frage, wie die Lage sei, knurrte Kümmritz nur ein Wort: "Katastrophal."

+++ Das Sanierungskonzept +++

Wer von Hamburg aus gen Osten fährt, um sich ein Bild über das Ausmaß der kulturpolitischen Strukturmisere zu machen, betritt eine andere Welt. Eine, in der an einer entscheidenden Stelle die Mauer nie gefallen zu sein scheint. Denn seit 1994 ist die Höhe des Kulturetats der Landesregierung so betonhart gedeckelt, als bestünde die Planwirtschaft noch. Seitdem gibt es 35,8 Millionen Euro für die fünf Theaterstandorte und die vier Orchester, und das soll nach dem Willen von SPD-Kultusminister Brodkorb bis 2020 auch so bleiben. Ein Vierteljahrhundert Planungssicherheit. Die wahrere, zynischere Formulierung dafür wäre wohl Sterbehilfe auf Raten.

Inflationsbereinigt bedeutet die Deckelung die Kürzung der Landeszuschüsse um rund ein Drittel, die jährlich neuen Sparzwänge nicht mitgerechnet. Man muss nicht gut im Rechnen sein, um zu sehen, wohin so etwas führt. Nicht mitgerechnet sind auch die Schäden, die einer Gesellschaft drohen, wenn sie die Idee aufgibt, dass Kultur mehr als Abendbelustigung ist, sondern auch Zukunftssicherung und moralische Standpunktbestimmung.

Knapp 90 Kilometer entfernt, im gut doppelt so großen Rostock, beantwortet Stefan Rosinski, kaufmännischer Geschäftsführer des Volkstheaters, die Lage-Frage etwas anders als der Kollege in Schwerin: mit einem 45-Minuten-Vortrag und einem Diagramm aus politischen Verbindlichkeiten, Fragezeichen und Zahlen. Es geht um Sinn oder Unsinn von Fusionen und Verteilungsschlüsseln, um Kulturzonen und Einwohnerquoten. An Kunst erinnert nur noch eine Brahms-Statuette auf dem Büroteppich, ein Andenken an Rosinskis Hamburger Zeit.

Zum Eintauchen ins Thema hatte Rosinski ein von ihm verfasstes 64-Seiten-Gutachten gemailt. Auch Kümmritz feilt gerade an einem, das Ende März fertig sein soll. An Gutachten herrscht hier kein Mangel, aber an Lösungen. In einem dieser Gutachten hieß es, dass die Zuschüsse pro Einwohner nirgendwo so hoch seien wie hier. Rosinski kontert: Rechne man die Zuschüsse auf die Besucherzahlen um, seien sie nirgendwo niedriger.

Rosinski hat bei Götz Friedrich Opernregie studiert, war an mehreren Häusern in Hamburg (zuletzt am Schauspielhaus in der Stromberg-Zeit) in der Verwaltung tätig und hatte als Geschäftsführer der Berliner Opernstiftung schon ein berüchtigt dickes Brett zu bohren. Aber das hier, das ist noch mal eine ganz andere Nummer. Rostock verschliss zehn Intendanten in 20 Jahren. Auf der anderen Straßenseite kann man die Ruinen der ehemaligen Theaterwerkstätten besichtigen, die an "Oliver Twist"-Kulissen erinnern.

+++ Seit 1994 ist der Landeszuschuss unverändert +++

Ende 2011 gingen die Bürger im Land gegen die Behandlung ihrer Kulturinstitutionen auf die Barrikaden, dabei kamen rund 50 000 Protest-Unterschriften zusammen. Die Folgen dieser Kulturpolitik sind überall verschieden, aber an allen Standorten dramatisch. Schwerins Intendant Kümmritz, seit 1979 im Amt und gerade bis 2016 verlängert, flieht in Sarkasmus: "Allet, wat ick hier tue, ist der blanke Schwachsinn. Die Stadtvertretung muss jetzt entscheiden, ob sie ein vernünftiges oder ein Pimpelpampel-Theater haben will."

Einen frischen "Tannhäuser" hat er wieder aus dem Spielplan genommen. Kein "Weißes Rössl" als Sommersause. Der Staatskapelle, dem drittältesten Orchester Deutschlands, hat er die Feierpläne zum 450. Geburtstag im nächsten Jahr gestrichen - alles zu teuer. "Hier kostet ein Bühnenbild im Schauspiel 11 000 Euro. Wo soll ick da noch wat wegnehmen?" Anfänger im Schauspiel bekommen in Schwerin 1650 Euro brutto. "In Rostock kann ich bei den Regiegagen ein Drittel weniger zahlen als vergleichbare Häuser", sagt Rosinski.

Mit der 1,4-Millionen-Zahlung für Schwerin kamen heftige neue Spar-Ideen von oben, etwa: Schließung der Fritz-Reuter-Bühne, einer plattdeutschen Theaterinstanz. Oder: 60 von 320 Stellen abbauen, am besten von jetzt auf gleich. Würde man kündigen und streichen wie gefordert, wäre bald nicht mehr genügend Personal übrig, um das geforderte Staatstheater-Niveau zu halten.

Eine Sparte ganz schließen? Nur noch Zwei-Personen-Stücke im Einheitsbühnenbild, Oper nur noch konzertant, Symphoniekonzerte ohne großes Orchester? Alles keine Lösung. Auch dann blieben Besucher weg und damit Einnahmen. Dann wäre Schluss mit dem Staatstheater in der 95 000-Menschen-Landeshauptstadt. So einfach und billig, wie die Politik es sich gern macht, ist es nun einmal nicht.

+++ Linke schlägt Stiftung für Theater vor +++

Wenige Stunden nach unserem Gespräch hat der Intendant einen Termin mit seinem Kapellmeister, der soll für die nächste Saison bis Ende 2012 einen Konzertspielplan entwerfen, in dem weder Solisten noch Gastdirigenten auftauchen. Zu teuer. Immerhin hat Kümmritz in Schwerin noch ein festes Stammhaus. Rosinski in Rostock hätte sehr gern wieder eines.

Vor einem Jahr wurde das Große Haus dichtgemacht, weil die Brandgefahr zu groß war. Seitdem wird in kleineren Spielstätten Programm angeboten, auch in einem Zelt in Hafennähe. "Beim Publikum kommt das ganz gut an", berichtet Rosinski, "weil es ein bisschen wie Zirkus ist." Den bisherigen Theaterkasten zu sanieren, eine Betonkiste von realsozialistischer Hässlichkeit, würde mindestens 35 Millionen Euro kosten, aber dann hätte man noch keine Strukturen für ein modernes Vierspartenhaus. Das Drama um die Baukosten der Elbphilharmonie wird Rosinski als abschreckendes Beispiel immer öfter vorgehalten.

Andererseits werden in Rostock, wo man seit Jahrzehnten ergebnislos über einen Neubau diskutiert, auch Träume geträumt, in denen man sich mit Prestigeadressen wie den Opernhäusern von Sydney oder Kopenhagen vergleicht. Um die Quadratur dieses Kreises abzurunden, ließ der parteilose Oberbürgermeister Roland Methling nach seiner Wiederwahl wissen, er sei für die Eröffnung des neuen Theaters bis 2018. Er hielt es aber auch für realistisch, wenn der Theater-Etat nur noch 12 bis 14 Millionen Euro statt der bisherigen 18 Millionen Euro betrage. Da fragt man sich: Will die Politik im Land noch Kultur? Und wenn ja, welche?

Noch komplizierter wird es, wenn die Klangkörper ins Spiel kommen. Es gibt vier Orchester im Bundesland, zwei mit A-Status in Rostock und Schwerin, zwei mit B-Status in Neubrandenburg und Stralsund/Greifswald. A-Status ist in der Kulturnation Deutschland mit mindestens 99 Planstellen verbunden und heißt: das höchste Tarifgehalt. Auf dem Papier verfügen die Orchester in Rostock und Schwerin noch über diesen Status, obwohl die Personaldecke durch Einsparungen längst mit je etwa 70 Planstellen auf B-Größe geschrumpft ist. Schwerins Musiker spielen seit Jahren für einen Haustarifvertrag, der für das Haus günstiger ist als die bundesweit geltenden Regelsätze - und Kündigungen erst ab 2013 zulässt.

+++ 250 Menschen demonstrieren gegen Theater-Kahlschlag +++

Schon bei der Erwähnung der Formel "B statt A" gerät Gerald Mertens, Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung, in Rage: ein "Dammbruch!" wäre das, ein Präzedenzfall für ähnliche klamme Häuser in Deutschland. Dieser tiefe Griff ins Portemonnaie betreffe nicht nur die Orchestermusiker, sondern auch Chor und Ballett des Hauses. Einmal gekappte Privilegien kommen nie wieder, alles hängt mit allem zusammen in dieser Misere.

"Die politische Rhetorik finde ich zynisch und dreist", sagt Mertens in Berlin. "Ich bin sicher, dass Rostock es sich leisten kann, ein Stadttheater zu bauen und zu betreiben", sagt Rosinski in Rostock. "Es findet einfach keine Theaterpolitik statt, weil es niemanden interessiert, das ist hier eine Dorfrepublik", sagt Kümmritz in Schwerin.

Ein wichtiger Posten in der Schweriner Theater-Bilanz sind seit 1993 die Schlossfestspiele im Alten Garten vor dem Haus. Für diesen Sommer ist ein "Bajazzo" geplant, als Kooperation mit dem Zirkus Roncalli. Aber schon kam in Schwerin der Gedanke auf, ob nicht der Alte Garten ein hübscher Kandidat für das Unesco-Weltkulturerbe wäre. Ruhm, Ehre und solvente Touristen verspricht man sich davon. Aber damit träte man dem Theater ein weiteres Mal ans schwächelnde Standbein.

Auf Kümmritz' Intendanten-Schreibtisch demonstriert eine Büste des Alten Fritz preußisches Pflichtgefühl. Auf die Frage, was in zehn Jahren sein wird, sagt Kümmritz: "Ick schwöre Ihnen, dann steht hier noch ein Theater. Die Alternativen wären Bordell oder Spielhalle."