Ein Bundesliga-Torwart wird ein respektierter Maler. Eine unglaubliche Geschichte, die viel mehr über Kunst und Fußball erzählt, als man glaubt.

Hamburg. Rudi Kargus hätte eine gute Zeit haben können, Anfang der Nullerjahre. Als die WM anstand im eigenen Land und die Jungs im Stadion anfingen, Adidas-Retrojacken zu tragen und "11 Freunde" zu lesen, das Magazin für Fußballkultur. Einen Denker im Fußball, das gibt es nicht oft. Einen, der reden kann. Der Sätze malt, die einen Anfang haben, eine Mitte und ein Ende.

Doch die Nullerjahre waren die Zeit, in der Rudi Kargus nichts wissen wollte von den Medien. In seinem Atelier im Norderstedter Wald, nördlich von Hamburg, war er am liebsten allein. Mit sich, mit seinen Bildern.

Wenn man von jemandem sagt, dass er ein zweites Leben hat, dann ist sein erstes meist ein berühmtes gewesen. Bei Rudi Kargus, 59, muss man sagen: Es hätte berühmter kaum sein können. Er war Torhüter in der Bundesliga, bis heute gibt es niemanden, der mehr Elfmeter gehalten hat als er - insgesamt waren es 24. Mit dem Hamburger SV wurde Kargus Meister und Pokalsieger, 1977 gewann er den Europapokal der Pokalsieger. 1979 verließ er Hamburg, elf Jahre später den Profifußball. Wenn man ihn damals gefragt hätte, ob er ein glücklicher Mensch ist, hätte er sicher geantwortet: "Ja, natürlich." Fußballprofi wollte Rudi Kargus werden, solange er denken kann. Und wahrscheinlich hätte er selbst nicht gedacht, dass danach noch so viel kommen sollte: so eine Suche, so viele Zweifel. Und so eine Ausstellung.

Es ist früher Abend bei Feinkunst Krüger, die Galerie in der Hamburger Neustadt ist voller Menschen. Dicht an dicht hängen die Bilder. Doch sie hängen nicht still, sie rauschen, sie passieren, pausenlos. Nichts auf ihnen ist versöhnlich. Es sind die Bilder eines jungen Mannes, sie sind laut, expressionistisch, ein Ineinander der Farben und Formen, viel Dunkel, viel Hell. Die Menschen darauf sind meist nur von hinten zu sehen. Sie tragen Masken oder Brillen, sind vermummt, haben den Kragen hochgeschlagen. Sie drehen sich weg vom Betrachter, und wenn man genau hinschaut, versuchen sie alle nur, ein bisschen für sich zu bleiben. Unerkannt.

+++ Laufbahn eines Künstlers +++

Doch Kargus' Bilder haben es schwer an diesem Abend. Um sie herum geht es hektisch zu: grelles Licht, Gesprächsfetzen. Viel Rotwein und Bier. Irgendwo in den hinteren Räumen steht Rudi Kargus. Er hört zu, wie ihm jemand etwas erzählt. Als würde es diesen Menschenauflauf gar nicht geben. Als würde nur er in diesem Raum sein, er und seine Bilder.

Rudi Kargus hat sie gemalt wie im Rausch. "Im letzten Jahr musste ich jeden Tag malen", sagt er Ende Januar in seinem Atelier, da ist es sehr kalt. "Nicht weil ich wusste, dass ich eine Ausstellung habe, nein, ich war besessen zu malen. Als hätte ich Angst, dass mir die Zeit davonläuft."

Der Weg zum Atelier von Rudi Kargus ist lang, weite Teile davon führen durch den Wald. Die Einsamkeit des Torhüters beim Elfmeter ist schon oft beschrieben worden, die Einsamkeit des Malers vor einer Ausstellung ist schwierig zu greifen. Die Kälte hat sein Atelier erobert, nur auf den Styroporplatten, die er auf dem Boden verteilt hat, steht man ein bisschen isoliert. Es riecht nach Ölfarben und Terpentin, in einer Ecke steht ein alter Kassettenrekorder. Das Bücherregal ist ein Brett auf zwei Böcken. Um den Stall herum stehen Bauernhöfe und Bäume. Es ist still.

Auch im Gesicht von Rudi Kargus. Zwei Jahre ist die letzte große Ausstellung her, sie war in der Fabrik der Künste. Als man sich vorab mit ihm traf, wirkte er misstrauisch. Die verzerrte Darstellung seiner Person in den Medien war er gewohnt, die verzerrte Darstellung seiner Kunst machte ihn wütend und empfindlich.

+++ Rudi Kargus, die malende HSV-Ikone +++

Dabei wäre es so einfach gewesen, die Karte des malenden Promis zu spielen, Journalisten sind manchmal sehr dankbar für solche Geschichten. Und dann noch ein Torwart, ein "Elfmetertöter". Ein Einzelgänger inmitten eines Kollektivs, im besten Fall ein Sonderling, im schlechtesten für alle: verrückt. Viele müssen das auch vom Handballtorhüter Henning Fritz gedacht haben, der sich nach erfolgreichen Paraden manchmal auf dem Spielfeld benahm wie ein halber Irrer. Er schrie und sprang mit entrücktem Blick vor dem Tor herum, doch abseits des Spielfelds war Fritz ein ruhiger Mann.

"In wichtigen Spielen halte ich manchmal wie in Trance", sagte er mal in einem Interview. "Ich sehe nichts und niemanden, fische unhaltbare Bälle aus den Torecken, ohne dass ich hinterher erklären könnte, wie ich das angestellt habe." Wenn man Rudi Kargus fragt, wie sich Fußball in den intensiven Momenten angefühlt hat, in den ganz großen Spielen, dann sagt er: " Ich war in einem Zustand ... wie weggebeamt. Und wenn meine Anspannung und das Lampenfieber am größten waren, dann habe ich die besten Leistungen gebracht."

Es ist der Rauschzustand, den Profisportler nach dem Ende ihrer Karriere suchen, manche können nicht leben ohne dieses Gefühl. Sie bleiben dem Fußball verbunden, werden Trainer und Manager, hängengeblieben auf dem eigenen Adrenalin. Rudi Kargus ist der Malerei verfallen. Denn so hat alles angefangen: Bei seinen ersten Malversuchen sprach ihn jemand aus der Tiefe des Raumes an, Kargus hörte ihn nicht. Er war völlig weg, gefangen im Spiel mit den Farben und Formen. Die Malerei fordert ihm alles ab, und die Frage, ob er malen könnte, ohne vorher Fußballer gewesen zu sein, ist eine schwierige. Woraus sollte er schöpfen, wie seine Kunst nähren, wenn nicht aus diesem einen großen Bruch, der sein Leben zeichnet? An die Säule am Eingang seines Ateliers stehen in kleiner Schrift drei Wörter umeinandergekritzelt:

denk DANK

BAR

Seit 16 Jahren ist alles ein Ausbrechen im Leben von Rudi Kargus. Ein Ausbrechen aus der Welt des Profifußballs, aus dem, was der Fußball aus ihm gemacht hat: die verinnerlichte Disziplin. "Ich habe diese Welt aber auch total angenommen. Nicht jeder hat es so angenommen wie ich", sagt Rudi Kargus. Das Leben nach straffen Zeitplänen ist ihm in Fleisch und Blut übergangen. Noch heute fällt es ihm schwer, unpünktlich zu sein, und so gern er das vielleicht wäre, ein Bohemien mit Ate-lier in Szenelage - er ist es nicht. Loslassen und sich fallen lassen, um malen zu können, das musste Rudi Kargus erst lernen. Der Kunstdozent Jens Hasenberg, sein Mentor und Freund, hat das mal anlässlich einer Ausstellungseröffnung in einen sehr schönen Satz gepackt: "Der Rudi ist doch viel zu dressiert", sagte er. "Er könnte diesem ganzen Rummel um seine Person auch ironisch begegnen, aber dafür ist er zu ehrlich."

Rudi Kargus hat daraufhin eine Reihe Bilder gemalt und sie "Der dressierte Mann" genannt. Sie sind groß und aggressiv, am liebsten malt Kargus ohnehin auf Leinwänden, die so groß sind wie er. Manchmal, er ist ja immer allein, muss das aussehen wie ein einziger Kampf, ein Hin und Her zwischen Kontrolle und Loslassen, sich verstecken und zeigen. Es ist zum Thema seines Lebens geworden. Wer sich auf seine Bilder einlässt, sich hinsetzt, sie betrachtet, der kann all das darin erkennen: wie die Farben, die Flächen sich ausbreiten und begrenzt werden, wie die Menschen auf den Bildern sich maskieren und gleichzeitig aufbegehren. Woodstock, die 68er, Kargus hat all das nur aus der Ferne der Trainingslager beobachten können.

Günter Netzer war Manager des HSV, als Rudi Kargus seine größten Erfolge hatte, und wenn er heute über ihn spricht, dann ist er noch immer voller Respekt. "Man muss das dem Menschen Rudi Kargus zugute halten, dass er nie eine Show aus seinen Fähigkeiten gemacht hat, er hat sich immer in den Dienst der Mannschaft gestellt", sagt er. "Und wenn er damals schon geahnt hat, dass da noch etwas anderes in ihm schlummert, dann muss man nachträglich sagen: Er hat das niemanden spüren lassen." Es ist der Satz, den man oft hört über Rudi Kargus: dass er ein sehr sensibler Fußballer war. "Als Torhüter stand Rudi Kargus noch mehr im Blickpunkt der Öffentlichkeit als wir", sagt Felix Magath, der 1977 mit Kargus in einer Mannschaft spielte. "Aber der größte Unterschied zu uns war, dass er nicht so einen robusten Eindruck gemacht hat wie der eine oder andere Kollege."

Günter Netzer hört lange zu, als man ihm von Rudi Kargus zweitem Leben erzählt, von seiner Malerei, den großen Fortschritten. Manchmal ist es still in der Leitung. "Das ist ja wirklich beachtenswert", sagt Netzer dann und betont jede Silbe. "Ich kenne keinen zweiten Fall wie diesen. Da fällt es schwer, an einen Zufall zu glauben."

Es ist eine Frage, mit der sich auch Rudi Kargus beschäftigt, seitdem er begonnen hat zu malen. "Ich weiß es nicht", sagt er und zögert, ein Buch über Francis Bacon (1909-1992) liegt wenige Zentimeter von ihm entfernt auf einem Tisch. "Francis Bacon sagt ja, dass es keine Zufälle gibt in der Malerei, dass die Malerei daraus besteht, Unfälle, Zufälle und darauf zu reagieren an der Leinwand." Mit Francis Bacon, dem irischen Maler, hat sich Rudi Kargus viel beschäftigt, wie bei Bacon sind es oft Fotos, die Kargus als Vorlage für seine Bilder dienen. Sie bringen den kreativen Prozess in Gang. "Die Kunst ist ein Spiel geworden", hat Bacon in den berühmten Gesprächen mit dem Journalisten David Sylvester gesagt. "Jeder Maler weiß, dass Fotos und Filme die Realität inzwischen viel besser abbilden als er selbst, ihn braucht es dafür nicht mehr. Für uns Künstler wird es also immer schwerer. Wir müssen die Kunst als Spiel begreifen. Und nur der wird etwas zählen, der dieses Spiel wirklich beherrscht."

Es ist ein Satz, über den man lange nachdenken kann, weil er einem die moderne Kunst sehr gut erklärt und außerdem die Jonathan Meeses dieser Welt. Die nicht mehr anders können als alles zu ironisieren, was sie tun, manchmal kann das sehr anstrengend sein. Wenn Rudi Kargus über seine Malerei spricht, dann tut er das so unprätentiös und ehrlich wie einer, der schon einmal ein Spiel beherrscht hat in seinem Leben. Der genug Medienpräsenz hatte, genügend Show. Als Jens Hasenberg ihn 2010 fragte, mit welchen Worten er seine Ausstellung eröffnen würde, sagte er: "Ich bin Rudi Kargus, und das sind meine Bilder."

Die Kälte in Kargus Atelier hat für heute den Kampf gewonnen. Der Atem malt Wolken, doch Kargus lächelt, als könne ihm das alles nichts anhaben. Von den Wänden leuchten seine Bilder. "Ich habe den Fußball geliebt", sagt er, "das Spiel, die Atmosphäre im Stadion, das Training mit den Kollegen. Aber dieses In-der-Öffentlichkeit-verhandelt-Werden, das habe ich nicht geliebt. Das habe ich gehasst." Der Fußballer Sebastian Deisler ist daran zerbrochen.

Als Rudi Kargus in seiner Zeit als Profitorhüter in den Urlaub gefahren ist, da hat er wochenlang einfach nur in den Himmel geschaut. "Vielleicht", sagt er und schaut kurz an die gemauerte Decke seines Ateliers, "habe ich es da auch schon ein bisschen geahnt: dass dieses Leben doch eines im Zwiespalt für mich war." Nun hat sich ein Kreis geschlossen.

Rudi Kargus: "Am liebsten hätte ich den Titel gemalt", Ausstellung bis 24.3. in der Galerie Feinkunst Krüger, Kohlhöfen 8, donnerstags und freitags, 12 bis 19 Uhr; sonnabends, 12 bis 18 Uhr, oder nach Vereinbarung (Telefon: 317 921 58). Eintritt frei