Benjamin Lebert

"Im Winter dein Herz" - dem Frost getrotzt

| Lesedauer: 8 Minuten
Maike Schiller

Benjamin Lebert hat einen Winterroman geschrieben. Eine Begegnung mit einem noch immer jungen Schriftsteller und feinsinnigen Menschen

Hamburg. Ein kleiner Blumenstrauß. Er hält tatsächlich einen kleinen bunten Blumenstrauß in der Hand. Schwer baumelt die Collegetasche am schlaksigen Körper, um den Hals liegen dicke weiße Kopfhörer; man erkennt ihn am Gang, bei dem er das linke Bein etwas nachzieht, der Lähmung geschuldet. Mit jedem Schritt hebt und senkt sich leicht die linke Schulter.

Den Ohlsdorfer Friedhof, auf dessen Haupteingang Benjamin Lebert mit seinen Blumen zusteuert, hat er selbst als Treffpunkt vorgeschlagen. Ein Ort in Hamburg, der ihm etwas bedeutet, so lautete die Verabredung. Die beiden Alternativen waren grundverschieden: Auf dem Fußballplatz, beim Training der HSV-Frauenmannschaft - oder auf dem Friedhof, am Grab von Wolfgang Borchert. Es ist diesig an diesem Nachmittag, am verhangenen Himmel keine Bewegung, das triste Wintergrau schluckt jede Farbe. Kein Fußballwetter, wenn es so etwas überhaupt gibt. Aber Friedhofswetter. Das gibt es.

"Ich fühle mich ihm verbunden, seinem ,Trotzdem'", sagt Benjamin Lebert und legt die Blumen so auf das Grab des Hamburger Dichters, dass die Blüten nach unten zeigen. " Was morgen ist, auch wenn es Sorge ist, ich sage Ja! " Die Bäume tragen noch keine Blätter, es ist still. "Die Stille tut mir gut", sagt Lebert. Seine Stimme klingt weich. "Das Stampfen unserer Zeit ist für mich anstrengend. Ich habe eine große Sehnsucht nach der Stille, ich empfinde es als segensreich, auf sie zu horchen. Ich bin ein kleiner Anachronismus." Jemand, der Eichendorff-Gedichte liest statt sich auf Facebook zu tummeln. Der zwar ein iPhone besitzt ("Das verankert mich in der Zeit"), darauf aber Erasmus von Rotterdams "Lob der Torheit" speichert. Und der regelmäßig Wolfgang Borchert besucht, zur stummen Zwiesprache und um den Gefährten im Geiste ein paar Blumen zu bringen.

Kalt ist es; kalt, diesig und feucht. Dicker, fluffiger Schnee hätte besser zu Benjamin Leberts neuem Roman gepasst, "Im Winter dein Herz" heißt er, ein Roadtrip durch ein Deutschland, das im kollektiven Dornröschenschlummer liegt. Alles schläft, dank eingeworfener Winterschlaf-Pillen, einsam wachen drei Psychiatriepatienten, die sich mit ihrer iPhone-"Winter-App" und einem Jeep namens Ritchie Blackmore auf den Weg durch die tief verschneite Landschaft machen. "Esoterisch" nannte ein erster Rezensent den Roman, der von Freundschaft erzählt, vom Schweigen, von der Sehnsucht und Suche nach Geborgenheit und der allumfassenden Kälte, die sich unschwer als Metapher auf die fehlende menschliche Wärme unserer Zeit lesen lässt. Lebert lächelt. "Es ist ein spirituelles Buch. Viele Menschen sind ja in einer Art Winterschlaf. Sie versuchen alles im Blick zu behalten und sind dadurch weniger da. Viele haben so etwas Abgeklärtes. Ich finde es schön, ein wenig durchlässiger zu sein. Ich finde es toll, die Welt zu bestaunen."

Es fällt leicht, Benjamin Lebert zuzuhören, wie er das Schreiben beschreibt, seine "Rettung", seinen Ausweg aus dem Leiden an der aufdringlichen, überfordernden Welt. Dann zieht er beide Augenbrauen hoch, die Stirn legt sich in Falten und er blickt von unten zu seinem Gesprächspartner auf. Ein Blick, der in seiner verbindlichen Ernsthaftigkeit etwas ausgesprochen Kindliches hat. "Das Schreiben ist für mich eine Form der Kontaktaufnahme und ein Weg, Mitgefühl mit mir selbst zu entwickeln. Man kann sich eine Geborgenheit schaffen, es sich im Schreiben häuslich einrichten." Leider habe er einen Hang dazu, "in Sphären zu sein, die nicht so fleischlich sind", sagt Benjamin Lebert und lächelt fast entschuldigend. "Die Kunst ist der kleine, zaghafte Versuch, dem Leben beizukommen."

30 ist er vor Kurzem geworden, er trägt jetzt einen Bart. Seitdem er 15 ist, ist er Schriftsteller. Das ist ein halbes Leben im Literaturbetrieb. Umso bemerkenswerter, welch eine Offenheit und Neugier er sich bewahrt hat. Ein Interviewtermin scheint Benjamin Lebert weniger lästige Pflichtübung als Anlass, in jeder Atempause eigene Fragen zu stellen (Was liest du gerade? Welchen Film hast du zuletzt gesehen? Was sind deine Lieblingsblumen?). Die Durchlässigkeit, die er in seinen Mitmenschen oft vermisst, sie ist bei ihm auf Anhieb spürbar. Es ist eine Zugewandtheit, die in ihrer Unmittelbarkeit ungewöhnlich ist und rührt.

"Ich bin ein kleiner Anachronismus" - Benjamin Lebert

Zumal seit "Crazy", seinem großen, frühen Bestseller-Erfolg, schon fast alles über ihn geschrieben worden ist. "Literatur-Mozart", "Pennäler-Existenz", "Wunderkind", natürlich. Für die einen war er "die Helene Hegemann der vergangenen Jahrhundertwende", für andere "der Salinger der MTV-Generation". Lebert lächelt sein freundliches, offenes Lächeln. "Man muss sich manchmal schon eine dicke Jacke anziehen", sagt er und zitiert einen Albumtitel der Arctic Monkeys: "Whatever People Say I Am That's What I'm Not".

Aber die dicke Jacke, sie schützt nicht gegen jeden Frost. Am Erscheinungstag des neuen Romans erschien kürzlich auch ein Interview mit ihm im "Zeit Magazin", in dem Benjamin Lebert freimütig über seine (mittlerweile überwundenen) Essstörungen berichtete und darüber, dreieinhalb Monate in einer psychiatrischen Einrichtung verbracht zu haben. Keinen Bissen habe er mehr herunterbekommen, "der ganze Schluckprozess war schwierig". Als er nur noch 47 Kilo wog, ging er in die Klinik. Er habe, erzählt Lebert, "die Eindrücke und die Vehemenz der Welt" buchstäblich nicht mehr in sich hineinlassen können. Die Geschichte seines Protagonisten Robert aus "Im Winter dein Herz" ist also auch die Geschichte von Benjamin Lebert. "Obwohl ich mich auch sehr für die Geschichten von anderen interessiere, ist das Benjamin-Sein leider sehr dominant." Das Schreiben ist für diesen Autor ein Weg, sein Benjamin-Sein zu sortieren, auch wenn - oder gerade weil - das Leben doch immer größer ist als das Schreiben.

Leberts Wunsch, der eigenen Melancholie gelegentlich zu entkommen, ist spürbar. Der alternativ vorgeschlagene Treffpunkt bei den HSV-Fußballerinnen ein ebenso deutlicher Hinweis. Sein ähnlich feinsinniger Romanheld Robert, der mit seinen schlaflosen Gefährten durch das Land kurvt, erinnert sich mit Verachtung an eine Studienfreundin, die das Streben nach Glück für "die banalste Sache auf der Welt" hält: Glück sei etwas "für die Einfältigen, etwas, worüber man in Hochglanzmagazinen liest".

Der Roman endet in einer Kirche, in der sich die Schlafverweigerer zusammenfinden und Halt in der Gemeinschaft finden. Vor solchen Bildern scheut Lebert nicht zurück. Nicht vor der Glückssuche, nicht vor Blumen für den verehrten Dichter.

"Nahezu alles, was ich sage, steht unter Kitschverdacht", sagt er und zuckt mit den Schultern. An dem kahlen Strauch über Wolfgang Borcherts Grab baumeln ein paar vergessene rote Christbaumkugeln. "Christbaumkugeln!" Ein leises Lachen. Es ist immer noch kalt. Sein kleiner bunter Blumenstrauß wirkt rührend schutzlos. "Ich stehe viel lieber unter dem Verdacht, kitschig zu sein als zynisch", sagt Benjamin Lebert. Und dass er jetzt einen doppelten Espresso brauche. Und ein Stück Apfelstrudel.

Benjamin Lebert : "Im Winter dein Herz", Hoffmann und Campe, 160 Seiten, 18,99 Euro