Shame: Im Kinodrama “Shame“ spielt Michael Fassbender einen Sexsüchtigen

Sex ist alles, was zählt. Nach dem Aufstehen, in der Dusche, auf dem Weg zur Arbeit, im Büro, in der eigenen Wohnung oder einer dunklen Seitenstraße. Spielt keine Rolle. Hauptsache, es passiert. Immer wieder, egal mit wem. Eine Zufallsbekanntschaft in der Bar ist ebenso gut wie ein 100-Dollar-Callgirl oder fortgesetzte Masturbation beim Abruf von Porno-Websites. Was zählt, ist Triebbefriedigung, nicht menschlicher Kontakt. Das jedenfalls gilt für Brandon (Michael Fassbender), einen erfolgreichen Mittdreißiger in New York. Sein Apartment ist nur mit dem Nötigsten ausgestattet, wirkt steril und unwohnlich - der perfekte Spiegel seiner Seele.

Brandon ist zwangskrank, ein Sexsüchtiger, der wirkliche Befriedigung niemals erfährt, der ständig auf Jagd gehen muss, um mit immer neuen Orgasmen eine riesige Leerstelle in seinem Leben zu füllen. Zwischendurch überkommt ihn existenzielle Verzweiflung, schlagen die Wellen der Scham über ihm zusammen. Doch auch wenn er eines Tages all seine Pornohefte und DVDs wie in einem kathartischen Rausch in große Müllsäcke wirft, schafft er den Absprung nicht. Letztlich kann nur noch mehr Sex seinen Selbstekel dämpfen. Da ist es wie mit einem Trinker, der immer weitertrinken muss, um es mit sich selbst überhaupt aushalten zu können. Nur mit dem Unterschied, dass Sexsucht für gewöhnlich kaum auffällt, und falls doch, nicht als echte Krankheit wahrgenommen wird.

Ein äußerst fragiles Gebilde ist dieses Leben am emotionalen Abgrund, das deutliche Risse bekommt, als Brandons Schwester Sissy (Carey Mulligan) auftaucht. Sie ist nach der Trennung von ihrem Freund am Boden zerstört und zeigt das auch. Sie sucht Nähe, Trost, Halt - und zwar bei ihrem Bruder. Ausgerechnet jenem Menschen, der Nähe überhaupt nicht zulassen kann. Und doch ist sie es, die in einer der stärksten Szenen dieses Films zu ihm durchdringt, die seine kühle Schale für einige Augenblicke aufbricht: als sie in einer Bar "New York, New York" singt. Nicht in der Was-kostet-die-Welt-Version eines Frank Sinatra, sondern als langsamen, jede Silbe mit Bedeutung aufladenden Blues. Da laufen bei Zeilen wie "I wanna make a brand new start" oder "I wanna be a part of it" Tränen über Brandons Gesicht, auf das die Kamera von Sean Bobbitt minutenlang hält. Erstmals erscheint er dabei wie ein echtes menschliches Wesen. Noch mal ganz neu anfangen, Teil von etwas sein, nicht länger allein, das wär's.

Das ist eine Szene, die hängen bleibt, ebenso wie das erste Date von Brandon mit seiner Arbeitskollegin Marianne (Nicole Beharie), die schon lange Interesse an ihm hat. Zu zweit im Restaurant kommt das Gespräch immer wieder ins Stocken. Die Intimität, die hier gefordert wäre, das Sich-dem-anderen-Öffnen, überfordert Brandon sichtlich. Als sie beiden sich einige Tage später zum Sex im Hotel treffen, zieht er im wahrsten Sinne des Wortes den Schwanz ein. Sex mit Liebe? Kann er einfach nicht. Und bestellt sich kurz darauf noch eine Prostituierte auf das Zimmer.

Bereits mit dem IRA-Drama "Hunger" sind Regisseur Steve McQueen und sein Hauptdarsteller Michael Fassbender, an dem momentan im Kino einfach kein Vorbeikommen ist, an die Grenze des Erträglichen gegangen. "Shame" ist da kaum anders. Auch weil McQueen dem Zuschauer keine Entlastung bietet. Wir erfahren nichts über Brandons Kindheit, die ihn vielleicht zu dem gemacht hat, der er ist. Wir werden nicht Zeugen seiner Heilung, auch wenn "Shame" gegen Ende eine dramatische Wendung nimmt. Eher schon erscheint der Film als Fallstudie, die zwar auch etwas über Sexsucht aussagt, durch das Symptom aber vor allem eine entfremdete Gesellschaft spiegelt, in der Vereinzelung und Gier eine tragische Verbindung eingegangen sind.

"Ich bin ein Moralist", sagt McQueen, doch die Moral kommt bei ihm nicht mit der Keule. Er verurteilt nicht, stellt keine Kausalzusammenhänge her, sondern zeigt schlicht, was da ist. Und das kann ziemlich schmerzhaft sein. Für Brandon, der hohlwangig und mit tief liegenden Augen bisweilen wie eine gehetzte Hyäne in den glitzernden Straßenschluchten New Yorks wirkt. Und für den Zuschauer, der hier zwar ein ums andere Mal zum Voyeur wird, aber viel mehr sieht, als ihm eigentlich lieb sein dürfte.

"Shame" GB 2011, 100 Min., ab 16 Jahren, R: Steve McQueen, D: Michael Fassbender, Carey Mulligan, täglich im Abaton (OmU), Passage, Studio-Kino, Fr/Sa/Di im Streit's (OF); www.shame-derfilm.de