“Parallelgeschichten“, der monumentale Roman des Ungarn Péter Nádas, erzählt vom Schicksal einer Budapester Familie - und ist große Literatur.

Hamburg. Mit Marcel Proust verglichen zu werden, das ist eine Ehre für jeden Erzähler. Mindestens. Vielleicht ist es sogar überhaupt das Höchste, was einer erreichen kann, der sein Leben mit dem Schreiben von Geschichten zubringt, tapfer Wort an Wort reihend. Dabei die Welt zwischen zwei Buchdeckeln erklärend, weil Buchstaben die Welt sind und das Leben immer auch künstlerische Auslegungssache. Der große Franzose Marcel Proust (1871-1922) hat einmal einen Roman geschrieben, der sieben Bände umfasst und 5000 Seiten dick ist. Das legendäre Werk heißt "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" und gilt manchen als wichtigstes aller Zeiten.

Péter Nádas, 1942 in Budapest geboren, ist ein Mann aus der Proust-Gewichtsklasse. "Buch der Erinnerungen" (1991) heißt der Roman, der bisher in Deutschland als Opus magnum des Ungarn galt. Ein weit ausholendes Prosastück, das aber verblasst gegen den dreibändigen Roman "Parallelgeschichten", der jetzt, sieben Jahre nach dem Original, auf Deutsch erscheint.

Die "Parallelgeschichten" nehmen ihren Anfang mit einer Begebenheit im Berliner Tiergarten im Jahr 1989: Der Student Döhring findet eine Leiche auf einer Parkbank. Sein Verhalten im Gespräch mit dem Kripobeamten Dr. Kienast wird peinlich genau geschildert. Es macht ihn verdächtig. Genaue Schilderungen sind die Regel in dem Buch. Vom Tiergarten geht es in einem gemächlichem Schwenk zurück in die 1960er-Jahre nach Budapest, wo die ungarische Familie Lehr ein Schicksalsschlag ereilt: Der Pater familias, ein aus Siebenbürgen stammender Professor, liegt im Sterben. In vielen der 39 Kapitel wird es um diese Personen und ihre Familien gehen: die deutschen Döhrings und die ungarischen Lehrs.

Dabei hängen die Episoden nur locker miteinander zusammen. Sie spielen in den Nazi-Jahren in Berlin, in der Vorkriegs- und Kriegszeit in Ungarn (dort trieben die faschistischen "Pfeilkreuzler" ihr Unwesen, ihr Einfluss reichte bis in die bürgerlichen Eliten hinein), in den 1950er- und 60er-Jahren im sozialistischen Ungarn (mit dem Aufstand 1956 als Scheitelpunkt) und Ende der 1980er-Jahre in Deutschland. Dass der lose geknüpfte Stoff keinen roten Faden hat, spiegelt die Unordnung des 20. Jahrhunderts.

Und alles bewegt sich in Zeitlupe: Die "Parallelgeschichten" kommen mit wenig Szenen aus. Eine Taxifahrt in Budapest, das nächtliche Umherstreifen auf der Schwulenmeile, eine Schifffahrt, das Mittagessen in dem Dahlemer Bürgerhaus eines Berliner Rassenforschers. Die Episoden erstrecken sich über 50 Seiten und mehr. Eine Kopulation wird über Dutzende von Seiten beschrieben: Dabei nähert sich der Erzähler den Menschen, die hier miteinander schlafen, in konzentrischen Kreisen. Überhaupt ist das Sexuelle nicht ohne das Politische zu denken.

Und umgekehrt. Was in den "Parallelgeschichten" auffällt, ist nicht so sehr das ideologische oder historische Korsett, in dem die Figuren stecken (und aus dem sie sich manchmal befreien wollen), sondern ihre Körperlichkeit, der anarchische Sexus: "Gyöngyvér bohrte sich für lange Minuten in seine Achselhöhle, leckte den vielen Schweiß ab, sog den Duft des nass verklebten Haars ein." Wenn Nádas seitenlang einen Akt beschreibt, dann geht es auch um die Potenz des Schreibenden - wie lange reicht der narrative Atem? Es ist kein allwissender Erzähler, der durch den Roman führt, er weiß nicht mehr als seine Leser. Was er sieht, was er schildert, ist ein Wirbel der sexuellen Identitäten - mit homoerotischer Note. Die Erzählung von der Anbahnung schwuler Kontakte im Wald der Donauinsel endet mit einer Razzia der Polizei.

Es wird also auch gezeigt, wie der Staat das Privateste seiner Leute unterdrückte. Trotzdem ist das Verhalten der Figuren erstaunlich libertär. Die sexuelle Freiheit ist eine Gegenmaßnahme, wenn der Sozialismus einen Käfig baut. Gender-Forscher hätten ihre helle Freude mit den "Parallelgeschichten": Die Geschlechteridentitäten verschwimmen. Interessanterweise wirkt das Personal fast durch die Bank neurotisch, mindestens aber von einer schwierigen Vergangenheit beschwert. Kristóf Lehr ist lebensmüde, er will dem Leben überhaupt keinen Sinn abgewinnen. Sein Vater wurde verhaftet, die Mutter brannte mit einer Frau durch. Das Gegenstück zu dem jungen Ungarn findet der Erzähler Jahrzehnte später in dem jungen Deutschen Döhring. Er entstammt einer Nazi-Familie; der Vater arbeitete im KZ. Döhring hat einen Schuldkomplex und lebt in seiner eigenen Welt, es ist eine beinah ganz ohne soziale Kontakte. Das Doppelgängermotiv durchzieht den Roman.

Nádas ist ein meisterhafter Psychologe. Der Roman hat viele starke Teile. Er ist da am besten, wo er die zwischenmenschlichen und seelischen Verschiebungen schildert. Das macht er jedoch nicht, indem er dem Leser die Lage der Dinge vorbuchstabiert: Wir müssen uns das Dargestellte selbst zusammensetzen. Auch sonst verlangt Nádas viel. Er bricht beinah jede Erwartungshaltung, die man an einen herkömmlichen (Gesellschafts-)Roman hat. Durch seinen Erzählstil bleibt die Handlung schemenhaft. Das Hauptmerkmal des Textes ist die Wiederholung. Manchmal möchte man dem Erzähler dieses repetitive Element vorwerfen und sagen: Genau das walzt einige Szenen ins schier Unendliche, ins Ermüdende aus. Es werden Stimmungen evoziert, Charaktere entworfen, sie werden geformt, wie ein stoischer Bildhauer sich seine Figuren beharrlich zurechtklöppelt. Er haut lange - und oft auf dieselbe Stelle.

Aber er ist Schöpfer eines Kunstwerks von zeitloser Schönheit. In Nádas' Roman finden sich unzählige, von Christina Viragh glänzend übersetzte, epische, leuchtende, elegante, überraschende, wahre, scheußliche, naturalistische und impressionistische Sätze. Am Ende hätte man gerne gewusst, wer der Tote vom Anfang des Buches ist. Man hat ihn, nach vielen, vielen Seiten, nicht vergessen, und man hat auch eine Idee. Aber Nádas, dem auch in diesem Jahr gute Chancen eingeräumt werden, den Nobelpreis für Literatur zu gewinnen, tut einem keinen Gefallen. Er beantwortet die Frage nicht.

Péter Nádas: "Parallelgeschichten" Übers. v. Christina Viragh. Rowohlt. 1728 S., 39,95 Euro

Lesung im Literaturhaus, heute, 19.30 Uhr