Vor 175 Jahren starb der Literat. Seine Figuren, allen voran Woyzeck, sind ungebrochen aktuell. Seine Arbeit jenseits reiner Dichtkunst.

Hamburg. Es muss eine seltsame Gesellschaft gewesen sein, die sich am 16. Mai 1875 auf dem Germaniahügel in Oberstrass am Zürichberghang vor einem Grabstein versammelte. Deutsch-national gesinnte Studenten vor allem, Mitglieder der Burschenschaft Germania, nach der besagter Hügel benannt worden war. Was sie zusammenkommen ließ, war die Umbettung eines zu jener Zeit nahezu vergessenen deutschen Dichters und Naturwissenschaftlers.

Georg Büchner war bereits am 21. Februar 1837, zwei Tage nach seinem Tod, ordentlich auf dem Zürcher Friedhof Krautgarten beigesetzt worden, erst später erfolgte die Umbettung auf den Germaniahügel. Ein Ort deutschtümelnder Denkungsart für einen sozialrevolutionären Dichter? Die wackeren Studenten müssen etwas gründlich missverstanden haben.

Es ist ein schmales Werk, das Büchner hinterließ, als er, gerade einmal 23 Jahre alt, an den Folgen einer Typhuserkrankung starb. Zu Lebzeiten waren lediglich die mit dem Pfarrer Friedrich Ludwig Weidig verfasste Kampfschrift "Der Hessische Landbote" und das Historiendrama "Dantons Tod" veröffentlicht - der "Danton" jedoch in einer stark redigierten, einer verstümmelten Fassung. "Lenz", "Leonce und Lena" und der "Woyzeck" erschienen Jahre nach Büchners Tod. Erst im November 1913 wurde "Woyzeck" am Münchner Residenztheater uraufgeführt.

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Diese späte Rezeption Büchners verwundert wenig, war der Sohn eines hessischen Distriktarztes doch ein zu früh Geborener, seiner Zeit weit voraus. Politisch sowieso, aber auch ästhetisch. Für Büchner, der eben auch Naturwissenschaftler war und über das "Nervensystem der Barbe" (ein Süßwasserfisch) promovierte, war dokumentarisches Material jene Matrix, aus der seine literarischen Werke erwuchsen. Sei es die unvollendete Novelle "Lenz", für die sich Büchner bei den Tagebuchaufzeichnungen des Pfarrers Oberlin über den Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz bediente, sei es das Drama "Dantons Tod", das den Krieg der Ideologien während der Französischen Revolution nachzeichnet, seien es "Woyzeck" und auch die Komödie "Leonce und Lena" - Büchners schriftstellerische Arbeiten sind immer weit jenseits der reinen dichterischen Fantasie verortet.

So bieten seine Werke noch heute genug Deutungsmaterial, um in schöner Regelmäßigkeit auf deutschen Bühnen inszeniert zu werden. Büchners aktuellste und vielleicht zeitloseste Figur ist zweifelsfrei die des Woyzeck. Nicht, weil er sich obskuren scheinwissenschaftlichen Experimenten unterwerfen muss und zum Opfer obrigkeitsstaatlicher Dressur wird - es ist das soziale Aussortiertsein dieser Figur, ihr seelisches Weggerutschtsein aus der Ordnung der Dinge, ihr in vielfacher Hinsicht Verrücktsein, was Woyzeck durchaus heutig sein lässt. Denn Woyzeck, das könnte auch der gestresste, deprimierte, vielleicht sogar kranke Zeitgenosse sein, der Frau und Tochter blutig richtet; es könnte der verarmte Hartz-IV-Empfänger sein, der ohnmächtig vor Wut Amok läuft, es könnte der verwirrte Gymnasiast sein, den virtuelle Gewaltfantasien zu realen Taten verführen. Es könnte, wohlgemerkt.

Was bleibt also? Vielleicht Büchners wie auch immer interpretierte Aktualität, dieses Mitleiden an der Kreatur. "Man muss die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes Einzelnen einzudringen; es darf einem keiner zu gering, keiner zu hässlich sein, erst dann kann man sie verstehen", wie es im "Lenz" zu lesen steht. Welch hoher Anspruch, gleichwohl er in den Zeiten von Krieg und Krise gültiger und wichtiger denn je zu sein scheint.

Jene Burschenschafter weiland auf dem Germaniahügel werden da anders gedacht haben. Ihnen dürften Büchners Worte, die er seinem "Lenz" in den Mund gelegt hat, vermutlich fremd gewesen sein. Vielleicht aber haben sie ja ein wenig Poesie aus der Grabinschrift gewinnen können, die Georg Herwegh für Büchner verfasst hat: "Ein unvollendet Lied sinkt er ins Grab, der Verse schönsten nimmt er mit hinab."