Die Autorin Katja Kullmann hat über Versprechungen und neue Gemeinschaften geschrieben. Heute liest sie auf Kampnagel aus ihrem Buch vor.

Kampnagel. Früher nannten sie es Bohème und wer nicht dazugehörte, fand diesen Zustand aus sicherem Abstand romantisch. Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Arbeit ist immer noch ein Lebensmittelpunkt, für sehr viele aber kein festes Fundament, auf dem man ein Leben berechenbar aufbauen könnte. Die Bohème von damals ist inzwischen digitalisiert und muss mehr und mehr davon leben, sich selbst zu vermarkten. Die Journalistin und Autorin Katja Kullmann hat über das Pendeln zwischen Selbstbetrug und Selbstbehauptung das klug beobachtende Buch „Echtleben“ geschrieben. Kullmann hat Soziologie, Politikwissenschaften und Amerikanistik studiert, sie kennt die Höhen und Tiefen der Arbeitswelt aus eigener Anschauung: Nach dem 2002 erschienenen Bestseller „Generation Ally“ gönnte sie sich den vermeintlichen Luxus, frei arbeiten zu wollen. Und wurde, als die Aufträge ausblieben und das Konto sich leerte, zur Hartz-IV-Empfängerin. Fünf vor Feierabend bot man ihr eine feste und gut dotierte Ressortleiterin-Stelle bei einer Hamburger Frauenzeitschrift an, dort kündigte sie, als sie die verordneten Sparzwänge nicht mittragen wollte. Eine Ironie ihrer Geschichte: Kurz bevor sie das Honorar für „Echtleben“ erhalten sollte, musste der Verlag Insolvenz anmelden. Am Freitag stellt Kullmann ihre Thesen beim Kongress „Work in Progress“ auf Kampnagel vor.

Hamburger Abendblatt: Die Misere, die Sie beschreiben, spielt sich vor allem in der frei schaffenden, sich oft selbst ausbeutenden Was-mit-Medien-Szene ab. Aber ist sie darauf beschränkt und deswegen für alle anderen egal?

Katja Kullmann: Was wir Kreativwirtschaft nennen, ist eine exemplarische Branche, die viel über allgemeine Erwerbsverhältnisse erzählt. Es gibt überall Schlagworte wie „Outsorcing“, „Freisetzung“, „das unternehmerisch denkende Selbst“ – all das sickert in andere Branchen durch und heißt da dann vielleicht Leiharbeit oder Zeitarbeit. 57 Prozent der Anstellungen im Dienstleistungsbereich waren in den letzten fünf Jahren nur noch befristet. Es betrifft also immer mehr Menschen. Die sogenannten „Kreativen“ sind oft nur eine Art unfreiwillige Avantgarde.

Der Euro geht angeblich gerade den Bach runter, und das schon seit Monaten. Wie soll man da – um den Untertitel Ihres Buchs aufzugreifen – noch Haltung bewahren?

Kullmann: Das ganze Jahr 2011 ist im Grunde eine einzige Bestätigung für das, was ich geschrieben habe. Ich verbinde mit „Haltung“ vor allem einen sozialen Standort: Wo stehe ich als Bürger, habe ich ein Klassenbild? Wie soll ich mich als politischer Mensch verhalten, und das nicht nur als Wähler? Wie soll ein Mensch das alles wissen, wenn Lebensläufe heute so unstrukturiert sind und von oben nach unten, von links nach rechts verlaufen und sich so rasant verändern? Als ich mit Hartz IV zu tun hatte, kam mir die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens viel näher. Davor hatte ich das immer als sehr naiv empfunden. In all dem aufrecht zu bleiben, eine Haltung zu finden und an ihr festzuhalten, ist harte Arbeit.

Also ist Haltung immer nur das, was man sich gerade leisten kann?

Kullmann: Das wäre nur die unbefriedigende Schmalspurversion. Wenn man darüber hinaus mehr möchte, wird es noch komplizierter. Als ich in der Arbeitsagentur neben den anderen Menschen dort in der Warteschlange saß, wurde mir klar, dass das jetzt meine ,Kollegen‘ sind. Da hat sich meine vorherige heimliche Arroganz, die Einstellung, dass Bildung mich schon retten würde, schnell erledigt. Das hat den eigenen Narzissmus total zerschmettert und hat sehr weh getan. Aber es hat meinen Horizont auch sehr erweitert. Ich sehe Gemeinsamkeiten mit Leuten, bei denen ich das früher nie erwartet hätte. Ich habe definitiv gelernt, über den eigenen Mittelklasse-Tellerrand hinauszuschauen. Das ist ein großer Gewinn.

Also: Was einen nicht jenseits des Dispo treibt, macht einen nur härter.

Kullmann: Mag sein. Aber ich hatte nie einen, das war mein Glück, sonst wäre ich heute womöglich verschuldet.

Diese Problematik wird jetzt noch gesamtgesellschaftlicher?

Kullmann: Das schwappt gerade über. Was sich heute in den Kreativen-Sammelbecken etwa in Berlin abspielt, ist zu drei Vierteln von westdeutschen Eltern mitfinanziert. Und meine Armut, bei der ich von 13 Euro am Tag leben musste, war eine ganz andere als die von Familien, in der sie seit mehreren Generationen keinen Anschluss mehr an eine Ressource wie Bildungsreichtum haben. Das kulturelle Kapital, die Marke Ich? Das sind alles nur Glaubenswolken und Versprechen, denen auch ich aufgesessen bin. Aus den heutigen, manchmal abgebrannten Erwachsenen, die wie wild zu noch mehr Bildung und ihren Nachwuchs in möglichst segregierte Kindergärten drängen, spricht eine wahnsinnige Statusangst. Wir haben jetzt eine Art Übergangsmitte, die – erstmals in diesem Land – nicht in frühem Erwachsenenalter das Geld in jenen soliden Arbeitsverhältnissen verdient, die wir vor 30 Jahren noch hatten. Es gibt diese Verhältnisse einfach nicht mehr. Dafür haben wir Kohorten sehr gut Ausgebildeter, die global an den Ideenmarktplatz angeschlossen sind. Ich bin jetzt 41, und ich denke: Ich werde nicht mehr reich.

Keine schönen Aussichten für uns für die nächsten Jahre.

Kullmann: Der Zugang zu Arbeit, die sich wirklich lohnt, wird schmaler, die Hürden werden höher. Studiengebühren erschweren die Wissenserlangung, Praktika werden nicht mehr bezahlt – das kann sich eben nicht jeder leisten.

Je mehr sich ein Beruf materiell lohnt, desto unmoralischer ist er?

Kullmann: Nicht unbedingt. Aber als Teil einer ,Funktionselite‘ in den Konzernen muss man den so genannten Kostendruck eben oft nach unten oder an die Freien weiterreichen. Die guten Jobs, also die, bei denen Sie wenigstens über ein halbes Jahrzehnt eine gewisse Sicherheit genießen können, werden auf jeden Fall rarer.

Zukunftsangst ist der Normalzustand?

Kullmann: Die ganze Unübersichtlichkeit der letzten Zeit – Euro-Krise, Renten unsicher, die Occupy-Bewegung, die London Riots, Proteste in Israel, Stuttgart 21 – hat möglicherweise auch einen positiven Nebeneffekt: Diese Angst, die momentan alle Schichten ergreift, sorgt dafür, dass mehr miteinander gesprochen wird. Erstmals formiert sich eine globalisierte Bürgermasse, die einen gemeinsamen Ton sucht und ausprobiert, neue Formen von Gemeinschaft herzustellen. Wir haben globalisierte Wirtschaft, aber erstmals auch globalisiertes Zivilistentum, das versucht, Abhängigkeiten zu zeigen und sich quasipolitisch, manchmal auch noch etwas stümperhaft, zu äußern.

Wenn Sie von „Haltung“ reden, geht es doch im Kern um „Gehalt“. Komme ich dann in dieser Debatte mit den guten alten Helmut-Schmidt-Tugenden und Wertedebatten weiter?

Kullmann: Letztlich schon. Die Diskurshoheiten des Talkshowpersonals sind das eine, aber parallel dazu gab es viele sehr kleine Bewegungen, die ganz anders handeln: Kinderbetreuung wird selbst organisiert, die Stadtteilpolitik in Hamburg… Das alles formiert sich auch lagerübergreifend. Ich habe mich als Konservative entdeckt…

Und einen Schreck bekommen...

Kullmann: … es geht um Reparatur oder Revolution. Und ich hätte gar nichts dagegen, zu reparieren. Was wir einmal soziale Marktwirtschaft nannten, wie die alte Bundesrepublik einmal funktioniert hatte – dieses partnerschaftliche System ist so schlecht nicht. Ich sehe jetzt aber vor allem einen riesigen Abbau, bis hinab zu vorbismarckschen Verhältnissen ohne soziale Absicherung. Das empfinde ich als Rückschritt. Was war jetzt nochmal die Frage?

Helmut Schmidt?

Kullmann: Ach ja. Warum dürfen diese alten Männer immer noch in Talkshows sitzen und etwas sagen? Man spricht ihnen ernsthafte Krisenerfahrungen zu: „Die haben Schlimmes miterlebt und wissen, wovon sie sprechen.“ Sie stehen für historische Phasen. Aber auch die Gegenwart ist eine historische Phase! Wir stecken mitten drin.

Es gibt ein Wort, das wie wohl kein anderes in das Museum der Arbeit passt: Feierabend. Man feiert, dass man seine Arbeit getan hat und genau weiß, bis hierhin muss ich arbeiten, aber nicht weiter.

Kullmann: Genau. Es gab auf jeden Fall ein Ideal des freieren Arbeitens. Als ich mein Studium begann, gab es ein schlimmes Bild: 40 Jahre im Betrieb, man dient sich in klaren Schritten alle paar Jahre nach oben. Es gab das Zerrbild des faden, schlammfarben gekleideten Festangestellten.

Das wäre heutzutage fast das Paradies.

Kullmann: Genau. Aber dazu kommen wir gleich. Der andere Entwurf wäre: sich einbringen, bunter, mehr Freiheiten, kreativer Abläufe schaffen, Projekte machen. Das gibt es jetzt ja sogar in Banken. All das ist ja auch schön. Doch gleichzeitig ist von oben diese Zwangs-Flexibilität eingeführt worden. Inzwischen gibt es keinen Feierabend mehr, man ist immer im Dienst. Man betreibt konstantes Selbstmarketing. Wir reden ja auch vom Wohnungsmarkt, vom Partnerschaftsmarkt. Die Coaching-Branche ist ein eigener Wirtschaftszweig, der sich im Grunde nur mit der Milderung der Schwierigkeiten in der Arbeitswelt beschäftigt.

Wo endet das alles?

Kullmann: Mein Lieblingsbegriff stammt vom Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen, der vom „Authentizitätsporno“ spricht.

Jeder möchte insgeheim als Bürobewohner so abgesichert dastehen wie der TV-Serien-Stinker Stromberg, doch keiner möchte so sein?

Kullmann: Genau. Faszinierend an ihm ist aber die Sicherheit. Dass man einfach auch mal ausatmen und sich ein bisschen gehen lassen kann.

Bleibt noch die große Abschlussfrage: Ist das dann das Glück?

Kullmann: Hm. Glück hat wahrscheinlich immer dann gute Chancen, wenn gerade kein Kampf ausgefochten werden muss.

"Echtleben - Warum es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben" heute, 12.00, Katja Kullmann liest. 12.30, Diskussion "Der Traum von der schöneren Arbeit" mit Katja Kullmann, Catharina Bruns, Daniel Nauck, Kampnagel (Bus 172, 173), Jarrestraße 20, Tagesticket 20,-/erm. 10,-; www.work-in-progress-hamburg.de