Die Macher trauen sich, dem In- und Ausland mit provozierenden Filmen auf die Füße zu treten. Der Mix aus Kunst und Politik hat Tradition.

Es ist Sommer. Die Hitze lässt das Leben im Dorf fast zum Stillstand kommen, und doch verbreitet sich die Nachricht wie ein Lauffeuer: Eine Roma-Familie ist ermordet worden. Die Nachbarn schweigen. Keiner will etwas gehört oder gesehen haben. Der elfjährige Rio, seine Schwester Anna, die Mutter und der kranke Großvater wissen, dass ihnen niemand zu Hilfe kommen wird, sollten die Täter zurückkehren ...

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+++ Hamburger Wasser-Projekt profitiert von Berlinale +++

Nächste Woche wird Benedek Fliegaufs Drama "Just the Wind" im Wettbewerb der 62. Internationalen Filmfestspiele von Berlin laufen, und man muss kein großer Prophet sein, um zwei Dinge vorauszusagen. Erstens wird der Film in Berlin gefeiert werden, und zweitens wird man in Budapest nicht amüsiert sein. Wie man 2007 in Belgrad nicht amüsiert war, als "Grbavica" im Wettbewerb lief, ein Film über die Massenvergewaltigungen bosnischer Frauen durch serbische Soldaten. Oder wie London nicht amüsiert war, als Berlin sich in den 90er-Jahren einem der größten britischen Justizskandale aller Zeiten zuwandte und für Jim Sheridans Film "Im Namen des Vaters" die Trommel rührte, der in England schon während der Drehzeit als "IRA-Machwerk" diffamiert worden war. In England diskutiert man zurzeit übrigens kontrovers über Phyllida Lloyds Thatcher-Film "The Iron Lady", der außer Konkurrenz auch im Wettbewerb zu sehen sein wird. Dieser Film regt die Briten allerdings weniger wegen des Rückblicks auf die verhasste Thatcher-Ära auf, sondern eher, weil Lloyd es gewagt hat, die Demenz der einstigen Eisernen Lady zu thematisieren.

Zurück zu "Grbavica" und "Im Namen des Vaters". Beide Filme erhielten in Berlin einen Goldenen Bären. Und das Festival wurde damit dem Etikett gerecht, das politische unter den drei A-Filmfestivals zu sein, provokanter als die Konkurrenzunternehmen in Venedig und Cannes. Um diesen Ruf zu untermauern, ist man in Berlin 2008 sogar bereit gewesen, die Spielregeln zu ändern und den semi-dokumentarischen Abu-Ghraib-Film "Standard Operating Procedure" zum Wettbewerb zuzulassen. Berlinale-Chef Dieter Kosslick begründete die Entscheidung mit dem Satz, dieser Film habe die Festivalleitung "in die Sitze gedrückt". Und als die Jury dem Regisseur Errol Morris den Großen Preis zusprach, war das keine große Überraschung, denn den Vorsitz führte mit Constantin Costa-Gavras ein ausgesprochen politischer Filmemacher, der sich in seinen eigenen Filmen unter anderem mit der chilenischen Pinochet-Diktatur ("Missing") und mit der Rolle von Papst Pius XII. in der NS-Zeit ("Amen") beschäftigte.

Die Vermischung von Kunst und Politik hat in Berlin Tradition. Sie ist gewissermaßen das Gründungselement des Festivals, das 1951 entstand, weil die Amerikaner im Westteil der Stadt ein kulturelles Bollwerk gegen den Kommunismus errichten wollten. Genau gesagt war es Oscar Martay, der Washington davon überzeugte, dass das eine gute Idee sein könnte. Martay war 1948 als Film Officer der amerikanischen Militärregierung nach Berlin gekommen. Er sollte die Filmvorhaben deutscher Produzenten genehmigen und beaufsichtigen. Ab 1950 trieb Martay die Gründung der Internationalen Filmfestspiele Berlin voran. Die erste Berlinale stand unter dem Motto "Schaufenster der freien Welt", begann am 6. Juni 1951, und der Goldene Bär ging elf Tage später an Leopold Lindtbergs Film "Die Vier im Jeep". Die Story - ein Amerikaner, ein Franzose, ein Engländer und ein Russe sollen gemeinsam einen entflohenen Häftling aufspüren - traf den Nerv des Publikums. Die Berliner erkannten sich in Lindtbergs Besatzungsdrama wieder. Auch die Ost-Berliner, denen Martay schon lange vorher Sonderkonditionen an den West-Berliner Kinokassen eingeräumt hatte (sie konnten bei Vorlage des Personalausweises zum Umtauschkurs eins zu eins ins Kino gehen). In der SED verstand man die Berlinale-Gründung als Kampfansage, und prompt ließ Walter Ulbricht vom 26. Juni bis zum 1. Juli 1951 das Festival des volksdemokratischen Films veranstalten. Gezeigt wurden "Filme von sechs freien Nationen", darunter Polen, Bulgarien und Rumänien, die aber offenbar nicht viel Publikumszuspruch fanden - das Festival verschwand schnell wieder in der realsozialistischen Versenkung.

Die politische Mitgift prägt die Berlinale bis heute. In Berlin weht deshalb ein anderer Wind als im glamourösen, auf die Präsentation von Stars bedachten Cannes. Oder im etwas verträumten Venedig, das seine Filmfestspiele der Kreativität eines Hotelbesitzers verdankt, der 1932 die einträgliche Idee hatte, die Urlaubssaison mit ein paar Filmstars zu verlängern. (Bis zur Fertigstellung des Filmpalastes im Jahr 1937 fanden die Filmfestspiele von Venedig auf der Terrasse des Hotels Excelsior statt.)

In Berlin wehte der Wind ungleich schärfer als auf dem Lido oder an der Côte d'Azur. Einen politischen Höhe- beziehungsweise Tiefpunkt markierte dabei das Jahr 1970, in dem das Festival abgebrochen wurde, weil sich die Jury verkrachte. Zunächst hatte sich das Festival mit Filmen von Patrick Ledoux, Brian de Palma und Alain Robbe-Grillet eher dahingeschleppt. Am fünften Tag, dem 30. Juni, stand Michael Verhoevens "o.k." auf dem Programm: die ins Bayerische verlegte Geschichte einer Vergewaltigung, der ein Kriegsverbrechen der Amerikaner im Vietnamkrieg zugrunde lag. In den Beifall mischten sich Proteste, ein paar Besucher verließen den Zoo-Palast vorzeitig. Unter ihnen war auch der deutsche Juror Manfred Durniok. Durniok war es auch, der den Skandal einleitete. Er entschuldigte sich am nächsten Tag bei seinem amerikanischen Kollegen George Stephens dafür, dass die Bundesrepublik Deutschland mit einem Film wie "o.k." im Wettbewerb angetreten war. Während der hitzigen Sitzung gab Stevens den Jury-Vorsitz ab, und am Ende wurde mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen, Verhoevens Film zu "neutralisieren". In einem Brief an die Festivalleitung schlug die Jury vor, die Auswahlkommission solle erneut überprüfen, ob der Film dem Festivalreglement entspreche, in dem festgeschrieben sei, dass die ausgewählten Filme "zur Verständigung und Freundschaft unter den Völkern beitragen" sollten ...

Der Rest ist Geschichte. Regisseure wie Rainer Werner Fassbinder ("Warum läuft Herr R. Amok?") zogen ihre Filme aus Protest gegen die "Zensur" aus dem Wettbewerb zurück, die Jury stellte ihre Arbeit ein, und Berlins Kultursenator Werner Stein musste erklären, damit habe "der Wettbewerb sein Ende gefunden". Die Berlinale war aus.

Trotz dieses Traumas kam es neun Jahre später erneut zum Eklat. Offenbar unbeeindruckt von sowjetischen Wenn-dann-Drohungen nominierte das Festival 1979 Michael Ciminos Film "The Deer Hunter" für den Wettbewerb. Den Boykott der sozialistischen Länder - Begründung: der Film sei "eine Beleidigung für das Volk von Vietnam" und zur Völkerverständigung völlig ungeeignet - nahm Berlin hin. Den Goldenen Bären bekam Peter Lilienthal ("David").

Weder Cannes noch Venedig haben auch nur in Ansätzen Ähnliches erlebt. In Berlin scheint man nach dem Jetzt-erst-recht-Motto zu verfahren. 1986 lud die Festivalleitung Reinhard Hauffs umstrittenen RAF-Film "Stammheim" in den Wettbewerb ein. Die Aufführung fand unter Polizeischutz statt, weil es Morddrohungen gegen die Juroren gegeben hatte. Spontis verspritzten Buttersäure im Zoo-Palast. Den Vogel schoss am Ende allerdings Jury-Präsidentin Gina Lollobrigida ab. Sie nannte den Film ein "terroristisches Machwerk" und musste von "Berlinale"-Chef Moritz de Hadeln regelrecht auf die Bühne getrieben werden, wo sie Hauff den Goldenen Bären mit den wütenden Worten überreichte, sie sei gegen diese Entscheidung gewesen. RAF-Filme sind auf der Berlinale übrigens immer gern gesehen: Vor zwölf Jahren wurde Volker Schlöndorffs Film über Inge Viett in den Wettbewerb aufgenommen ("Die Stille nach dem Schuss"), 2002 war es Christopher Roths "Baader"-Film, 2011 Andres Veiels Film über die im Terror endende Dreiecksgeschichte zwischen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Bernward Vesper ("Wer, wenn nicht wir").

Aber die Berlinale-Macher haben sich auch mit der Türkei angelegt, indem sie den Film der Taviani-Brüder über den Genozid an den Armeniern einluden ("Das Haus der Lerchen"). Und sie haben die iranischen Mullahs gegen sich aufgebracht, als sie den gerade zu sechs Jahren Haft und 20 Jahren Berufsverbot verurteilten Filmemacher Jafar Panahi 2011 in die Jury beriefen. Panahi wurde zehn Tage lang demonstrativ ein Stuhl frei gehalten, und die Festspiele plakatierten in der Stadt die anklagende Frage "Wo bleibt Panahi?".

In diesem Jahr dürfen sich neben den Ungarn die Chinesen freuen: Am Sonntag kommt Alison Klaymans Dokumentation "Ai Weiwei: Never Sorry" zur Aufführung. Berlinale-Direktor Kosslick hat außerdem angeregt, Chinas verfolgtem Künstler eine Professur in Berlin anzutragen. "Dann muss er ja anwesend sein, und das werden wir den Chinesen noch mitteilen!"

Am nächsten Donnerstag ist dann Fliegauf mit "Just the Wind" dran. Sein Film basiert auf den Roma-Pogromen, die 2008 und 2009 in Ungarn stattgefunden haben. Elf Menschen sind dabei gestorben, die Hetze gegen die Roma hält bis heute an. Am 18. Februar werden die Filmfestspiele dann noch den Episodenfilm "Hungary 2011" zeigen, der die politische Atmosphäre in Ungarn thematisiert. Zu den Regisseuren gehören neben Fliegauf auch Ágnes Kocsis, Márta Mészáros und Miklós Jancsó. Die anschließende Diskussion wird Bela Tarr leiten, ein Mann, der im vergangenen Jahr für sein Epos "Das Turiner Pferd" mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde, der sich in seinem Heimatland nicht mehr wohlfühlt und sagt: "Die Orbán-Regierung muss weg. Nicht ich." So sieht das die Berlinale-Leitung offenbar auch.

Dieter Kosslick hat für die 62. Filmfestspiele übrigens das politische Motto "Aufbrüche und Umbrüche" ausgegeben. Dazu, hat er gemeint, passe schon der Eröffnungsfilm "Les Adieux à la Reine". Aus diesem Film über den Ausbruch der Französischen Revolution könne man lernen, dass es jedem Despoten am Ende nur um zwei Dinge gehe: "Ums Geld und um sich selbst." Darin liege auch die Verbindung zu den Filmen über den Arabischen Frühling, die man selbstverständlich auch ins Programm genommen habe.