Pianistin aus Peking triumphierte mit “Rach 3“ in der Laeiszhalle

Hamburg. Anschläge zählen, das tun hauptsächlich Sekretärinnen. Pianisten verüben sie auch, aber mit der Quantifizierung halten sie sich nicht auf. Dafür gibt es ja die Musikwissenschaftler. Die haben die Töne abgezählt, die Sergej Rachmaninow im Sommer 1909 in sein drittes Klavierkonzert hineinkomponiert hat, und die Summe verglichen mit der aller anderen Klavierkonzerte. Ergebnis: "Rach 3" hat die meisten Anschläge pro Sekunde, und das Konzert dauert beinahe eine Dreiviertelstunde.

Am vergangenen Freitag beim Konzert des NDR Sinfonieorchesters unter Andrej Boreyko in der Laeiszhalle enthob die junge Chinesin Yuja Wang den Brocken seiner Schwerkraft und brachte ihn mithilfe ihrer pianistischen Zauberkräfte zum Schweben.

Yuja Wang ist nicht deswegen eine phänomenale Pianistin geworden, weil ihre Ballett tanzende Mutter ihr von klein auf die Finger dehnte und sie seither über ein extrem biegsames Handwerkszeug verfügt. Das hat ihr aber geholfen, die beinahe unmenschlichen Herausforderungen zu bewältigen, die Rachmaninows Werk an seine Interpreten stellt. Das Stück beginnt trügerisch sanft und gesanglich, wie ein Lied, doch im Verlauf der drei Sätze müssen die Pianisten oft in halsbrecherischem Tempo über die Tastatur toben. Dabei dürfen sie nie vergessen, dass es sich um Musik handelt und nicht um Kampfsport. Frau Wang aber tanzte hinreißend auf diesem Drahtseil. Sie balancierte ihre Vorstellung perfekt aus zwischen technischer Meisterschaft und Ausdruckstiefe, zwischen manuellem Wahn und Echtheit der Empfindung.

Diese junge Frau aus Peking scheint von der Musik so gefunden worden zu sein wie manchmal ein Kind fernab Tibets von der Seele eines frisch dahingeschiedenen Lamas. Sie spielt vollendet Klavier, mit aller Sensibilität, mit aller Kraft, mal wie eine Löwin, die ihr Junges verteidigt, mal so zart, als genüge der Flügelschlag eines Kolibris, die Saiten des (übrigens ganz wunderbar intonierten) Steinways in Schwingung zu versetzen.

Das Orchester ehrte diese meisterliche Dienerin der Musik mit einer Glanzvorstellung seines Könnens. Nuanciert, pünktlich, lebendig: eine Sternstunde. Die anschließende "Suite für Orchester" von Rachmaninows Idol Tschaikowsky war brillant gespielt, verhielt sich aber zum triumphalen ersten Konzertteil wie der Vollmond zur Sonne. Die Ohren zehrten und glühten noch von ihr.