Das Hamburger Orchester tourt durch die USA. Das Hamburger Abendblatt hat es auf seiner Konzertreise begleitet: unter anderem in New York.

New York City. Das Erstaunen der jungen Amerikanerin auf dem Balkon war ehrlich: "Sind die alle extra aus Hamburg gekommen?" Sie schaute auf gut 40 schwarz gekleidete Musiker, die sich mit ihren Instrumenten auf der Bühne des Roulette einrichteten, eines liebevoll restaurierten kleinen Theaters an der Atlantic Avenue in Brooklyn. "Nicht alle", sagte eine Dame aus der Reihe vor ihr. "Zwei sind aus New York. Einer davon ist mein Mann." Tatsächlich saßen beim Auftritt der Hamburger Symphoniker zwei Schlagzeuger aus New York mit auf der Bühne. Welches Orchester führt schon serienmäßig jene sechs Perkussionisten auf seiner Gehaltsliste, die Olivier Messiaens Werk "Des Canyons aux étoiles" verlangt, mitsamt Donnerblech, Windmaschine, Röhrenglocken und allerlei anderem Instrumentarium, das da klingelt und klöppelt, rumst und gongt? Gut, dass in New York ganze Heerscharen von bezahlbaren Mietmusikern herumlaufen, die ohne allzu viel Probenzeit auch so ein komplexes Stück spielen können wie dieses.

"Des canyons aux étoiles" ist eine ausgewachsene Mutprobe selbst für Ensembles, die mit der Musik des späten 20. Jahrhunderts viel intimeren Umgang pflegen, als die Hamburger Symphoniker dies tun. Schon bei der Saisoneröffnung mit diesem Stück im September 2010 planten der Orchesterintendant Daniel Kühnel und Chefdirigent Jeffrey Tate, Messiaens Werk bald an seinem Bestimmungsort aufzuführen, schließlich entstand es anlässlich der 200-Jahr-Feiern zur Unabhängigkeit der USA 1976. Ein doppeltes Wagnis: Die Amerikaner waren damals nicht sonderlich entzückt von Messiaens tönender Vision ihrer erhabenen Landschaft. Und Daniel Landaus 35 Jahre später auf die Musik komponierten Filmbilder lassen sich schwerlich als Feier des American Way of Life lesen. Sie verteidigen die Würde der Besitzlosen sowie den Schutz der Natur vor dem Menschen mit seinem verhängnisvollen Hang zu wachsenden Müllbergen. Das versteht man inzwischen selbst in Amerika, zumindest im Occupy-verliebten Teil des Landes.

"Wir hätten die Aufführung auch in der Alice Tully Hall im Lincoln Center in Manhattan machen können. Wir wollten aber nicht", sagt Daniel Kühnel beinahe trotzig. Dabei hätte das gut gepasst, denn es war die Mäzenin Alice Tully, die Messiaen 1972 den Kompositionsauftrag gab. Doch die Wahl des Konzertortes in Brooklyn war klug. Denn das Roulette, von der Aura und den Ausmaßen her eine fast um die Hälfte geschrumpfte Große Freiheit, repräsentiert einen Musikspielplatz neuen Typs. Er vereint die Intimität eines Klubs mit der Klasse eines Veranstaltungsorts für Hochkultur.

Ohne Landaus Visionen schmälern zu wollen: Es war wohl hauptsächlich die überragende musikalische Leistung, die die knapp 300 Besucher im Roulette begeisterte. Mit Francesco Tristano saß der Artist in residence der vorigen Spielzeit am Flügel, und Jeffrey Tate geleitete die solistisch teilweise extrem geforderten Symphoniker mit Ruhe und Übersicht durch die zerklüfteten Gebirgsmassen dieser Partitur.

Im urbanen Brooklyn und auch in den Tournee-Stationen zuvor, in Worcester in Massachusetts und Purchase in Westchester County, eine gute Autostunde nordöstlich von New York City, pflegte das Publikum hinsichtlich seiner Kleiderordnung eine Art Casual everyday : Schlips im Büro, leger im Konzert. Etikette stört nur beim Kunstgenuss, dafür hören die Leute gut zu. Als Frau nimmt man auch gern mal das Strickzeug mit in den Saal und die Späthippiewollmütze nicht vom Kopf.

Der Silbersee hat in den USA viele Schwestergewässer. In Worcester, einem selbst für amerikanische Verhältnisse ungewöhnlich trostlosen Ort, besorgte die Konzerteinführung ein musikbegeisterter Zahnarzt in Rente, der für seine Altersgenossen die zu erwartenden Höhepunkte des Abends mithilfe eines betagten Kassettenrekorders erläuterte. Anschließend glückte den Symphonikern in der Mechanics Hall, die vor über 150 Jahren von der Gesellschaft der Stahlarbeiter von Worcester County erbaut wurde, eine differenziert gespielte 7. Sinfonie von Anton Dvorák. Schon die stellenweise sehr amerikanisch klingende Ouvertüre "The Wasps" des Briten Vaughan Williams bewies, wie gut dieses Orchester spielen kann, wenn es ausreichend Probenzeit hat und die Musik nicht nur ein- oder zweimal aufführen darf.

"Jetzt können wir anfangen zu zaubern", sagte ein mit sich und den Kollegen zufriedener Pauker weit nach Mitternacht im Hotel in Erwartung der kommenden Konzerte. Und eine langjährige Erste Geige freute sich darüber, dass die Musiker auf dieser Reise die Kunst des Zuhörens wieder entdeckt haben: "Musikmachen besteht doch zu 80 Prozent aus nichts anderem."

Eine Konzerttournee mit einem Orchester ist eine Mischung aus Klassenfahrt und Spitzenkunst auf Reisen. Wochenlang hocken über 80 hochgradige Individualisten einander auf der Pelle, auf Abruf müssen sie jeder für sich und alle gemeinsam Perfektion abliefern. Doch wer die Musiker der Hamburger Symphoniker abseits der Bühne beobachtet, erlebt einen Organismus, den noch etwas anderes zu bewegen scheint als nur das gemeinsame Ziel. Rivalitäten und Revierkämpfe mag es auch hier geben, aber das Klima prägen sie nicht. Die Grundtemperatur in diesem Kontinuum aus Frauen und Männern, aus altgedienten und jungen Spielern, aus deutschen Muttersprachlern und Osteuropäern, Asiaten, Australiern, Skandinaviern und Engländern ist warm. Auch wenn auf manchem Hotelflur Highlife bis morgens um drei war: Am Morgen danach ist deswegen keiner richtig böse, der davon wach wurde, und alle sind an Deck.

Als die drei Busse mit den Musikern am Sonntagmittag in Purchase einliefen, einem der reichsten Vororte New Yorks, legten die Fahrer einen Stopp bei Whole Foods ein, der örtlichen Filiale der amerikanischen Naturkost-Kette. Essen fassen. Wie in Trance gingen da manche durch die großen Selbstbedienungsbereiche an kalten und warmen Speisen. Man hätte einen hübschen Werbespot drehen können, wie sich da mal eben ein komplettes Orchester mit Nahrung versorgt.

Dem Publikum im Performing Arts Center von Purchase, einem der angesehensten Kunst-Colleges der USA, bescherten die Symphoniker dann manche Glücksmomente. Unter den etwa 1000 Musikliebhabern waren eine ganze Reihe in der Nazizeit in die USA emigrierter Juden und deren Nachkommen. "Sie sind mit der europäischen Konzertmusik aufgewachsen, das ist ihre Sprache", sagte eine Ortsansässige. Besonders diesen schenkte der israelische Violinsolist Guy Braunstein nach dem Brahms-Konzert eine seelenvoll gespielte Zugabe von Fritz Kreisler, einem der großen jüdischen Virtuosen des Instruments.

Das größte Wunder dieser Konzertreise aber ist Jeffrey Tate. Nach dem Erfolg in Brooklyn saß er noch lange fröhlich in einem Geheimtipp-Lokal in Williamsburg bei Bier und Perlhuhn. "Ich mache diese Tournee, um das Selbstwertgefühl der Musiker zu stärken", sagt er. Den Segen, den Jeffrey Tate über die Hamburger Symphoniker bringt, fasst eine Geigerin in vier knappe Worte: "Er atmet mit uns." Wie der 69-jährige Chefdirigent nach seiner im letzten Frühjahr durchlittenen monatelangen Krankheit diese Tournee mit neun Konzerten in zwölf Tagen bewältigt, auf einem anderen Kontinent, mit sechs Stunden Zeitunterschied und mitten in einem Winter, der zwischendurch auch in den USA seine eisigen Zähne zeigt - das ist für den ohnehin schon von massiven gesundheitlichen Einschränkungen geplagten Mann eine Tour de force ohnegleichen. "Ein so dicht gepacktes Konzertprogramm hat er sich mit 20 nicht zugemutet", sagt sein Mann Klaus Kuhlemann. Er sorgt sich um Tates Gesundheit. Und weiß doch, dass nichts seiner Lebenskraft mehr aufhilft als die Musik.