Aravind Adiga beschreibt in seinem unbedingt lesenswerten Roman “Letzter Mann im Turm“ den Widerstand gegen die Zumutungen der Moderne

Aravind Adigas Romandebüt war ein Schelmenstück. "Der weiße Tiger", für den der junge Autor 2008 überraschend, aber verdient mit dem britischen Booker Prize ausgezeichnet wurde, stellte das indische Wirtschaftswunder parodistisch auf den Kopf. Der Titelheld präsentierte seine Lebensgeschichte als Erfolgsmodell eines Jungen aus der Provinz, der sich in Delhi listig und lernfähig als Chauffeur durchschlägt, bevor er sich mit der Ermordung seines Dienstherrn das nötige Kapital für ein eigenes Start-up-Unternehmen in der boomenden IT-Metropole Bangalore beschafft.

Als Schauplatz für seinen neuen Roman "Letzter Mann im Turm" hat Adiga die Megacity Mumbai gewählt, genauer: ein betagtes Wohnhaus im Stadtteil Vakola nahe dem Internationalen Flughafen. Die Bewohner, eine recht bunte Mischung, haben eines gemeinsam: Sie sind "Mittelklasse bis ins Mark".

Ihre Wohnungsgenossenschaft wirkt ein wenig aus der Zeit gefallen, denn während die Metropole mit Großbauprojekten und Slums um sie herum wild wächst und sich ständig verändert, erinnert der fünfstöckige "Turm A" der Vishram Society an das Bombay der 60er-Jahre.

Die Bewohner sind ebenso in die Jahre gekommen wie ihr Haus. Menschen wie Mrs. Puri, die sich um die Zukunft ihres behinderten Sohns sorgt. Oder das Ehepaar Pinto: Sie ist blind und so vertraut mit dem Gebäude, dass sie glaubt, sich nirgendwo anders mehr so gut zurechtfinden zu können. Und dann ist da noch der gerissene Immobilienmakler Ajwani, der nicht skrupellos genug ist, um geschäftlich erfolgreich zu sein. Und der muslimische Internetcafé-Besitzer Ibrahim Kudwa, der im Bemühen um Anerkennung anpassungsfähig bis zur Selbstaufgabe ist. Sie scheinen sich mit ihrem Scheitern arrangiert zu haben. Alle sind Teile einer funktionierenden Gemeinschaft und durch und durch "pucca" - anständig.

Ein moralisches Vorbild in diesem ehrenwerten Haus ist Yogesh Anantha Murthy, genannt Masterji, der an die weltverbessernde Kraft von Bildung und Erziehung glaubt. Für seine Mitbewohner im Turm A steht außer Frage, dass Masterji eine Autorität in jeder Hinsicht ist. Er ist ein Mann, der für sein Wissen und seine asketische Lebensführung bewundert wird und für sein mit Würde ertragenes Schicksal das Mitgefühl seiner Nachbarn verdient: Er ist Witwer und war Vater einer Tochter, die bei einem Unfall ums Leben kam.

"Ein Gentleman", sagt seine Nachbarin Mrs. Puri, die sich gern Lektüre von ihm ausleiht - zum Beispiel Agatha Christies "Mord im Orientexpress", jenen betagten Krimi, in dem ein Mann zum Opfer seiner Mitreisenden wird. Was sich als erstes schlechtes Omen für Masterji deuten ließe.

Denn die Verhältnisse im Hause ändern sich rasch, als die Bewohner ein Angebot bekommen, das auf sie wie ein Lottogewinn wirkt. Der Confidence-Konzern des Bauunternehmers Dharmen Shah will im boomenden Viertel Vakola mit dem Bau von Luxusapartments groß einsteigen. Um Platz für ein lukratives Prestigeobjekt zu schaffen, soll der Turm A abgerissen werden.

Der Konzern bietet den Bewohnern Fantasiepreise für ihr Eigentum. Der kleine Haken an der Sache: Der Genossenschaftsvertrag der Vikram Society erfordert es, dass alle Mitglieder verkaufen müssen, bevor der Bauherr über den Turm A verfügen kann. Doch ein Bewohner weigert sich beharrlich.

Je nachdrücklicher Masterji gebeten und bedroht wird, desto unnachgiebiger besteht er darauf, in seiner alten Wohnung zu bleiben. Der prinzipientreue und altersstarrsinnige Lehrer isoliert sich mehr und mehr, bis er als "Letzter Mann im Turm" nur noch Gegner hat, denen jedes Mittel recht scheint, ihrem Glück nachzuhelfen - eine Konstellation, die jener in Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" gleicht.

Masterjis eigentlicher Gegenspieler ist der Baulöwe Shah. Aus dessen privatem Schatzkästlein eingängiger Weisheiten stammt die Maxime: "Kaste, Religion, Familienhintergrund bedeuten nichts, Talent alles."

Es ist eine durchaus bittere Pointe, dass dieser Vertreter eines neuen Indien verwirklicht, was im postkolonialen Staat von Nehru als Ideal galt: Aufstiegschancen für alle, unabhängig von der Herkunft.

Doch was bei einem Menschen wie Yogesh Anantha Murthy alias Masterji - ein Schelm, wer dabei an den bekannten, sozial engagierten indischen Autor U. R. Ananthamurthy denkt - auf dem Glauben an Bildung und soziale Gerechtigkeit gründet, das ist bei Dharmen Shah trotz gelegentlicher sentimentaler Anwandlungen ein rücksichtsloser Sozialdarwinismus.

Shah, der einst mittellos aus der Provinz nach Mumbai kam, hat gelernt, dass Chancen erkannt und mit Schläue genutzt werden müssen und dass immer das Recht des Stärkeren gilt.

Gewiss, die Figuren im "Turm" müssen für einige Theorien des Autors herhalten. Doch sie sind mehr als papierene Stellvertreter, weil Aravind Adiga ein gewitzter Erzähler ist, der eine Vielzahl von Stimmen und subjektiven Wahrheiten erschafft.

In einer Geschichte, die so farbig wie das Leben ist, bleiben allerdings nur wenige Gewissheiten. Vielleicht die, dass ein besseres Leben teuer erkauft ist, wenn man dadurch seine Anständigkeit verliert.

Oder aber auch die Einsicht, die der sozial denkende Masterji in einem hellsichtigen Moment gewinnt: "Ein Mensch ist das, was seine Nachbarn über ihn sagen."

Aravind Adiga: "Letzter Mann im Turm". Übers. v. Susann Urban und Ilija Trojanow. Beck. 514 S., 19,90 Euro