Das Traditionsunternehmen Kodak hat in den USA Insolvenz angemeldet. Wie die Erfindung der Digitalfotografie unser Leben verändert hat.

Hamburg. Kaum vorstellbar, wie viele Bilder unser Gedächtnis gespeichert hat: die Landungsbrücken und der Taj Mahal, die Sequenz von John F. Kennedys Ermordung, die einstürzenden Twin Towers, die Porträts von Hitler, Einstein oder Gandhi ebenso wie die Gesichter unserer Freunde und Verwandten. Und täglich kommen neue Bilder hinzu.

Die Flut der Bilder, die sonst nur in unserem Kopf herrschte, sie ist nun auch in unserem Alltag, auf unseren Mobiltelefonen und Festplatten angekommen. Die Digitalfotografie ist allgegenwärtig, und wer sich zu spät mit ihr befasst hat oder sie nicht ernst nahm, der trägt jetzt an den Konsequenzen: Kodak, die große amerikanische Traditionsfirma, Pionier der analogen Fotografie, hat gestern in den USA Insolvenz angemeldet. Zu spät hatte sich das Unternehmen der digitalen Revolution gestellt. Es ist das Ende einer Ära und der (voraussehbare) Beginn einer neuen. Das Spannende aber ist: Das alles hat sich so ähnlich schon einmal abgespielt - Mitte des 19. Jahrhunderts.

Damals waren gemalte Porträts oder Landschaftsgemälde das Privileg von Herrschern und später bestenfalls von wohlhabenden Bürgern. Nach und nach verlor das Abbild der Wirklichkeit seinen exklusiven Charakter. Die zwischen 1835 und 1839 von Louis Jacques Mandé Daguerre erfundene Fotografie entwickelte sich schon bald zu einem Medium für das Bürgertum. Und je weiter die Technik voranschritt, desto größer wurde der Kreis jener, die sich ihrer bedienen konnten: Noch im späten 19. Jahrhundert wurde das fotografische Erinnerungsbild nicht nur für das Bürgertum, sondern auch für Arbeiterfamilien zum festen Lebensbestandteil.


+++ Hintergrund: US-Insolvenzverfahren nach Chapter 11 +++


+++ Hintergrund: Wie Kodak die Welt der Fotografie revolutionierte +++

Allerdings blieb die Fotografie, für die damals noch ausschließlich Fachleute verantwortlich waren, etwas Besonderes. Wer um 1880 als Kind einer Hamburger Arbeiterfamilie geboren wurde, konnte damit rechnen, nur wenige Male im Leben fotografiert zu werden - dann aber merkwürdigerweise gern auf einem Eisbärenfell im Fotoatelier. Dann gab es das Konfirmationsfoto und später das Hochzeitsbild. Möglicherweise kam noch ein Porträtfoto hinzu, das im Visitformat (5,5 x 9 cm) abgezogen und auf Karton geklebt wurde. Die Angehörigen der unteren sozialen Schichten beschränkten sich schon aus Kostengründen darauf, die existenziellen Schnittstellen des Lebens fotografisch dokumentieren zu lassen.

Und das war kein Vergnügen, sondern geschah mit großem Ernst. Allein die um die Jahrhundertwende noch notwendigen langen Belichtungszeiten sorgten dafür, dass die Porträtierten in aller Regel mit unbewegtem und ernstem Gesicht in die Kamera blickten. Ihr Gesichtsausdruck lässt erahnen, dass ihnen das Herausgehobene des jeweiligen Moments bewusst gewesen ist.

Die Plattenkameras hatten ein beträchtliches Gewicht und ließen sich nur schwer transportieren. Schon deshalb war die Fotografie zunächst an Ateliers gebunden. Als eine der ersten Firmen brachte Kodak 1888 den Rollfilm auf den Markt, das aggressive Vorgehen des Gründers George Eastman ermöglichte es dem Unternehmen, bis Ende des 19. Jahrhunderts eine marktbeherrschende Stellung aufzubauen. Spätestens jetzt wurde das Fotografieren mit den viel handlicheren Apparaten auch für Amateure erschwinglich. In bürgerlichen Familien fotografierte man die heranwachsenden Kinder nun häufiger, bei Familienfeiern arrangierte man Gruppenbilder und nahm im Urlaub Schnappschüsse auf. Für Reisende war die Fotografie der Beleg für den tatsächliche Aufenthalt an möglichst berühmten Orten: Das Porträt vor dem Eifelturm oder der Freiheitsstatue wurde zur Beglaubigung eigener Weltläufigkeit, eines zum Bild verdichteten Privilegs. Die damals entstandenen Motive und Perspektiven, die Posen der Fotografierten - sie ähneln denen der ersten Digitalfoto-Welle erstaunlich, wie eine Ausstellung in der National Gallery in Washington 2007 zeigte. Schon in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts kamen Alben auf den Markt, in die man die privaten Fotos einkleben konnte. Ganze Lebens- und Familiengeschichten fanden sich fein säuberlich aufgereiht und mit Namen, Daten und knappen Erläuterungen versehen auf den meist schwarzen oder dunkelbraunen Kartons. Aber auch Firmen und Vereine dokumentierten ihre Geschichte fotografisch und legten sie in Alben ab.

In den 1960er-Jahren verdrängten Farbfotos die zuvor üblichen Schwarz-Weiß-Bilder, und mit der Erfindung der Polaroids kam erstmals ein spontanes Element hinzu. Bereits seit etwa 1950 fanden außerdem Diapositive immer größere Verbreitung. Erstmals wurde die Fotografie nun virtuell: Man klebte sie nicht mehr in Alben, sie wurden vielmehr daheim mithilfe eines Projektors "an die Wand geworfen".

Da sich Dias deutlich kostengünstiger als Farbabzüge herstellen ließen, fotografierte man nun sehr viel mehr. Der "Dia-Abend" entstand, hier hatte die Inflationierung der Fotografie erstmals individuell spürbare Konsequenzen: Gezeigt wurden Hunderte von Motiven, hinzu kamen Hunderte von Geschichten, denn der Fotograf verband mit jedem Bild unvergessliche Erlebnisse, die sich dem Unbeteiligten einfach nicht erschließen wollten. Kein Wunder, dass die Einladung zum Dia-Abend mit der Zeit zur unausgesprochenen Drohung wurde. Doch das war nur ein harmloses Vorspiel der privaten Bilderflut, die das digitale Zeitalter über uns hereinbrechen ließ. Seit fingernagelgroße Chips Tausende von Bildern speichern können, gibt es kaum eine Situation, die nicht bildlich dokumentiert wird. Auf Urlaubsreisen werden nicht mehr zehn Farbnegativfilme geknipst, sondern 32-Gigabyte-Chips mit Tausenden von Fotos. Mit der Inflation der privaten Bilder ist ihre Aussagekraft dramatisch gesunken - aufbewahrt werden sie nicht mehr in Alben, sondern auf externen Festplatten. Die Kultur des Erinnerns ist unmittelbar verknüpft mit der Kultur des Bewahrens. Bildbände verkaufen sich nach wie vor, doch die Kiste mit den Urlaubsfotos, sie wird irgendwann ein verblichener Mythos sein.

Dass wir täglich zahllose Bilder sehen, können wir nicht verhindern, nur von Zeit zu Zeit, vielleicht nur einmal im Monat, begegnen uns Bilder, die aus der allgemeinen Flut herausragen, die uns innehalten lassen und gefangen nehmen. Wir betrachten sie langsam und immer wieder und begreifen dann vielleicht, dass Bilder mehr sein können als Abbilder, dass sie eine Wahrheit in sich tragen, die uns betrifft, dass sie nicht Ausdruck von Zufall und Beliebigkeit sein müssen - sondern Sinn haben können. Und damit zu Sinn-Bildern werden, die uns zu Recht in Erinnerung bleiben. Mit oder ohne Kodak.