Thea Dorn und Richard Wagner spüren in 65 lesenswerten Essays dem Wesen der deutschen Seele nach - ohne abgegriffene Erklärungen zu verwenden.

Hamburg. Die Frage nach dem, was deutsch sei, ist (manchmal zumindest) nirgendwo so langweilig wie in den heiligen Hallen der Hochkultur. Das Land der Dichter und Denker? Tausendmal gehört, nie geglaubt. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen? Reimt sich. "Deutsch" ist vor allem Lebensgefühl? Ja, das klingt immer gut. Deutschsein, Deutschland, das ist vor allem Alltag. Also: Arbeitswut, Feierabend, Heimat, Kindergarten, Männerchor, Spargelzeit, Wanderlust, Wurst.

Deutschland ist alles zwischen Abendbrot und Zerrissenheit - alles, was einem so einfällt. Der Journalistin und Schriftstellerin Thea Dorn und dem Schriftsteller Richard Wagner (ja, es gibt einen berühmten, aber nicht mehr unter den Lebenden weilenden Namensvetter) sind ziemlich viele Dinge eingefallen, die sie im Übrigen nicht um den Schlaf brachten. In dem sehr schönen und lesenswerten Buch "Die deutsche Seele" unternimmt das Autorenduo den Versuch, unser Land in 65 Begriffen zu erklären. Ohne freilich dabei in abgegriffene Formulierungen und Erklärungen abzurutschen - wie es die "deutsche Seele" an sich ja schon ist.

Sie wird hier nicht in einschlägigen Worten als besonders tiefsinnig oder grüblerisch beschrieben. Nein, sie taucht expressis verbis nur hie und da auf, waltet jedoch als Schemen in jedem der kleinen Essays, die Dorn und Wagner verfasst haben.

Ihre Wahl ist so einleuchtend wie subjektiv, naheliegend ("German Angst", "Doktor Faust", "Gemütlichkeit", "Reinheitsgebot") und überraschend ("Dauerwelle", "Mutterkreuz"). Mal wird beschrieben, wie wir sind, mal, was wir waren. Mal geht es um Großes ("Kulturnation", "Buchdruck", "Reformation"), mal um das Kleine, Alltägliche: den "Schrebergarten", das "Fahrvergnügen" und das "Fachwerkhaus". Und immer um das, was Deutschland (wie man so treffend sagt) im Innersten zusammenhält. "Jeder, der nicht weiß, wo er herkommt, kann auch nicht wissen, wo er hinwill", so steht's im Vorwort. Klingt nach Poesiebuch, ist aber: wahr. Was sind die Autoren, die uns das Deutschsein so beredt vorbuchstabieren? Sie sind: "Getrieben von der Sehnsucht, die Kultur, in der wir leben, in all ihren Tiefen und Untiefen, in ihrer Größe und Schönheit, in ihren Schrullen und Fragwürdigkeiten zu erkunden."

Das ist schön formuliert, und nur wer dem optimistischen Nachdenken der Deutschen über sich selbst moralinsauer die schlimme Vergangenheit vorhalten will, der ergänzt den letzten Satz des Vorworts ("Die Gedanken sind frei") mit dem schlimmen und absolut bösen Gegenstück zum deutschen Idealismus: "Arbeit macht frei." Aber das muss nicht sein, denn der immer informierte, manchmal auch spöttische Duktus der Artikel fordert auch die nicht heraus, die an jeder Ecke "Deutschtümelei" vermuten und vor einem allzu unbefangenen Umgang mit der eigenen Nationalität warnen.

Der Mythos vom "Land der Dichter und Denker" wurde übrigens von der Französin Madame de Staël erfunden, in ihrem Buch "De l'Allemagne" ("Über Deutschland", 1813). Damals schwärmte sie von Goethe und Schiller. Und wohl kaum vom "Abendbrot", das "karg" ist, "pedantisch" und "liebevoll". So beschreibt es jedenfalls Thea Dorn in ihrem kleinen Essay, mit dem der Reigen der deutschen Miniaturen beginnt. Was könnte seelenvoller sein als ein nahrhaftes Mahl, mit Vollkornbrot, Käse und Wurst? Die bewusste Schlichtheit des teutonischen Abendbrots ist, küchenhistorisch gesehen, die Antithese zur opulenten Tafelei des französischen Nachbarn. Sieht man mal von der Familie als letzter Bastion des klassischen Abendbrots ab, ist die Tradition natürlich mittlerweile auf den Hund gekommen. Man isst in unseren Tagen zu oft Tiefkühlpizza, und das am besten auch noch vor der Glotze.

Das ist unsäglich und unselig, aber bekanntlich kein rein deutsches Problem. "Heut mach ich mir kein Abendbrot, heut mach mir Gedanken", sagte einst der Kabarettist Wolfgang Neuss.

Ob Dorn und Wagner Hunger gelitten haben? Ihrer geistreichen und trotz des populären Angangs ungemein belesenen Sammlung mangelt es nicht an Gedanken. Die nihilistische Schwere des düsterromantischen deutschen Drangs zum Abgrund (Nietzsche! Heidegger!), die Corporate Identity der Hanse, Hildegard von Bingens Erweckung der Mystik, der Gegenbewegung der institutionellen Religion, oder die Ära der Gründerzeit, vielleicht die zuversichtlichste Zeit der Deutschen: Die Betrachtungen zeugen stets von Kenntnis und Sinn für das Eigentliche.

Denn das findet sich nicht nur in der Heldengeschichte der deutschen Pioniere (Gutenberg, Benz, Gropius), sondern vor allem in den emotionalen Zuständen und sozialen Wirklichkeiten, wie sie sich in einer langen, langen Geschichte entwickelt haben. Manche Begriffe wie die berühmte "Gemütlichkeit" und die "Schadenfreude" haben es als Lehnwörter in andere Sprachen geschafft (wie auch der einst von deutschen Pädagogen angelegte "Kindergarten"). Wörtern wie "Arbeitswut", "Sehnsucht" und "Bierdurst" könnte doch eigentlich dasselbe schmeichlerische Schicksal beschieden sein!

Es reicht ein Blick ins Inhaltsverzeichnis, um das Feld des Deutschen abzustecken. "Die deutsche Seele" ist nicht leicht zu fassen, als Buchtitel taugt sie allemal für eine enzyklopädische Zusammenschau der Befindlichkeiten. Der Strandkorb, dieses Signum der Sommerfrische, ist ein deutscher Alltagsmythos seit mehr als 100 Jahren, er war es in Ost und in West. "Der Strandkorb", schreibt Wagner, "erweist sich, jenseits aller Ideologien, als Kronzeuge des Volkscharakters."

Die deutsche Seele sonnt sich auch.

Thea Dorn/Richard Wagner: "Die deutsche Seele". Knaus, 560 Seiten, 26,99 Euro. Lesung heute Abend im Literaturhaus (ausverkauft)