Das US-Epos und weitere nationale Heiligtümer

Der englische "Guardian" zählte vor einiger Zeit einmal die seiner Meinung nach 100 besten Romane aller Zeiten auf: Klarer Fall von "Listomania". Der Mensch muss immer sortieren, einordnen, abheften, das Chaos auf die Reihe kriegen. Unnötig zu sagen, dass derlei Unternehmungen manchmal ganz schön subjektiv sind: Selbst die Entscheidung, was richtig ist und was falsch, was gut ist und was böse, ist nicht immer leicht zu fällen.

Wie schwer wird es da erst mit ästhetischen, mit Geschmacksurteilen? Die 100 besten Romane also, aufgezählt in einer englischen Zeitung: Kein Wunder, dass da die angelsächsische und insbesondere die britische Literatur mit vielen Werken vertreten ist. Die Nummer eins, vor Titeln wie Daniel Defoes "Robinson Crusoe", Jonathan Swifts "Gullivers Reisen" und Henry Fieldings "Tom Jones", ist allerdings Miguel de Cervantes' "Don Quichotte". Kann man mit leben. Das gilt nicht für den schwachbrüstigen Auftritt der deutschsprachigen Literatur: nur Kafka, Grass und Sebald.

Damit ist sie unterrepräsentiert, aber eine Liste, über die man nicht streitet, ist genauso fad wie eine, in der die Vorlieben des Zusammenträgers nicht klar erkennbar sind. Dann lässt sich so schön darauf schimpfen: auf die Überbewertung einer bestimmten Zeitepoche zum Beispiel. Warum, zum Geier, ist "Der große Gatsby", F. Scott Fitzgeralds großer Roman aus dem Jahr 1925, nur auf Platz 48? Englische Ignoranz ist wie Nebel, wie eine dicke Suppe über den Feldern der Literatur. Bloß nicht den Durchblick verlieren!

Wofür hätten die Amerikaner anstelle der Engländer votiert? Ganz sicher weitaus mehr für Romane, die etwas weniger alt sind als die auf der "Guardian"-Liste. Die Geschichte Amerikas ist eine verhältnismäßig kurze, und so nähme es nicht wunder, stünde Fitzgeralds "Great American Novel" an der Spitze, die eben den unvergleichlichen Namen "The Great Gatsby" trägt. Dieser Roman gehört zum nationalen Kulturerbe in Übersee.

Er ist eine Parabel über einen Aufsteiger, der gesellschaftlichen Erfolg hat, ohne je ganz dazuzugehören; und erzählt die Geschichte der Einwanderernation: Man kann in Amerika vom Tellerwäscher zum Millionär werden. Man kann aber auch abstürzen und seiner Aufstiegsträume verlustig gehen. Jay Gatsby (dessen wirklicher Name "Gatz" ist; ein Hinweis auf seine sinistre deutsche Herkunft) feiert Party um Party, ohne dabei je Erfüllung zu finden. Die verflossene Liebe, für die jedes Fest ist, und die nie erscheint - was wäre sie anderes als die Utopie, das alte Leben abzustreifen und im neuen anzukommen? Gatsbys Sehnsucht ist blind. Reizvoll, den "großen Gatsby" nun im Schauspielhaus zu sehen: Denn das Dilemma Gatsbys ist ein allgemein menschliches.

Zurück zu den All - Time -Literatur- Charts des "Guardian": Zwei Titel tauchen dort auf, die in ihren Ländern den Rang einnehmen, den Fitzgeralds Schöpfung in den USA hat. Es sind dies Leo Tolstois "Anna Karenina" (27) und Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" (41). Mal abgesehen von der Deklassierung russischer und französischer Literatur: Es gibt sie, die nationalen Heiligtümer, die zu allen Zeiten zumindest im Regal stehen.

Der Roman der Deutschen? Eher nicht Grass ("Die Blechtrommel", Platz 70), auch nicht "Der Prozess" (Platz 49). Wahrscheinlich würden wir uns für einen Roman von Thomas Mann entscheiden, oder? Für die "Buddenbrooks"; das Werk, der den deutschsprachigen Gegenwartsroman erstmals auf "Weltniveau" hievte, wie man gerade hierzulande so gerne sagt. Oder "Dr. Faustus". Wegen unseres "Nationalcharakters" (den es gar nicht gibt).

Der große Gatsby Premiere Fr 13.1., 20.00, Schauspielhaus (U/S Hbf.), Kirchenallee 39, Tickets ab 10,-