An diesem Sonnabend wäre der ehemalige NDR-Chefdirigent Günter Wand 100 Jahre alt geworden. “Bin jetzt alt. Muss Beethoven lernen.“

Hamburg. "Ich will ja nur das, was ich vor zwölf Jahren gesagt habe." In dieser Proben-Ansage von Günter Wand steckt seine gesamte Philosophie. Wand war Welten davon entfernt, ein "Star-Dirigent" zu sein, er war uneitel und kompromisslos, wenn es sein musste, auch bis über alle Schmerzgrenzen hinweg. Kompromisse ignorierte er, ebenso die schnellen Reize der Selbstdarstellung. Wand war, so gestrig das heute klingen mag, ein demütiger Diener der Kunst. "Das Äußerste, was man erreichen kann, ist, die Musik nicht zu interpretieren, sondern sie zu verstehen." Was sind da ein Dutzend Jahre.

Eine Pensionierung wider Willen im (für Dirigenten zarten) Alter von 62 Jahren hätte das Aus für Wands Karriere bedeuten können. In Köln wurde Wand 1972 nach mehr als drei Jahrzehnten wegen eines Jüngeren als Chef des Gürzenich-Orchesters "in die Pension gegangen", man wollte wohl auch einen Handzahmeren. Nach einem acht Jahre kurzen Zwischenspiel in Bern kam der 70-jährige Wand 1982 als Nachfolger von Klaus Tennstedt zum NDR-Sinfonieorchester. Sein legendärster Vorgänger, Orchestergründer Hans Schmidt-Isserstedt, war 71, als er den Posten verließ. Nur fünf Jahre später wurde Wand zum Ehrendirigenten auf Lebenszeit ernannt.

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Wand war Jahrgang 1912, aus demselben harten Holz geschnitzt wie sein großer Antipode Sergio Celibidache, der Zuchtmeister Georg Solti und der Gemütsmensch Kurt Sanderling. Die drei waren Kapellmeister der alten Schule, Lehrmeister, die Gehorsam verlangten, weil sie ihn selbst praktizierten. Das jeweilige Werk war für Wand stets wichtiger als jedes Ego. "Für mich stellt sich die Wirkung ein, wenn die Wirkung nicht mehr gesucht wird."

Gefunden wurde in seinen unvergesslichen Konzerten in der Hamburger Laeiszhalle immer wieder das Gefühl, eins werden zu können mit Musik, sich - und das ganz ohne Pathos - zu verlieren im Klang. Die Liebe steckte hier im Detail, in der Intuition für die Architektur der Musik, für ihre Proportionen, ihr Zeitgefühl. Das Wort "Gefühligkeit" hasste Wand.

Es gab nur wenige Komponisten, die Wand für wichtig genug hielt, um daran auf seinem hohen Niveau zu scheitern: Beethoven, Schubert, Mozart, Brahms und in fortgeschrittenem Alter vor allem Bruckner, wie Wand ein legendärer Zweifler vorm Herrn. Darüber wird oft vergessen, dass Wand in jungen Jahren leidenschaftlich für Zeitgenossen eintrat. Wollte ein Publikum eines dieser Stücke nicht so würdigen, wie es ihm seiner Meinung nach zustand, konnte es vorkommen, dass Wand es nach einer kurzen, giftigen Standpauke ein weiteres Mal durchspielen ließ.

Bevor Wand es wagte, eines seiner Heiligtümer zu dirigieren oder einer Live-Plattenaufnahme zu übergeben, ging ein mitunter monatelanges Partiturstudium voraus. Seinen ersten Schubert führte Wand dem Publikum mit 60 vor. Seine erste Fünfte von Bruckner, dessen Musik er "für eine Art Gottesbeweis" hielt, wagte er mit 62 Jahren - und erhielt dafür den Deutschen Schallplattenpreis. "Ich bin jetzt alt und berufe mich gern auf Klemperer: 'Ich muss nur noch gute Musik dirigieren'", war sein amüsierter Kommentar dazu.

Auf die Frage "Was halten Sie von der Anrede Maestro?" antwortete er, damit das mal klar war: "Ich heiße Günter Wand. Mach bloß kein Gedöns." Dieser Wunsch blieb fromm, denn je älter, abgeklärter und weiser Wand beim Umgang mit seinem Werkkatalog wurde, desto euphorischer die Verehrung, die ihm in der Klassik-Welt zuteil wurde. Tournee-Konzerte in Japan waren innerhalb weniger Stunden ausverkauft.

Sein Debüt in den USA hatte er mit 77 in Chicago erlebt. Früher wäre möglich gewesen, wenn er Kompromisse bei der sportlichen Proben-Dosierung amerikanischer Musikergewerkschaften gemacht hätte. Aber warum sollte er? "Nicht ich bin es, der eine Karriere verpasst hat - der Musikbetrieb hat mich verpasst." Wand konnte warten; alle anderen mussten es, bis sie am Ende seinen Spielregeln folgten.

1989 begann der Anfang des Endes der Wand-Ära. Knochenbrüche nach einem Sturz erforderten eine lange Zwangspause, der NDR begann unterdessen einen Flirt mit John Eliot Gardiner, der in dessen Berufung endete. Wand nahm diese Annäherungsversuche übel und ließ wissen, er stehe ab dem Ende der Saison 1991/92 aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr zur Verfügung. Wenige Tage vor seinem 90. Geburtstag verletzte sich der Mensch, der nie ein Maestro sein wollte, in seinem Schweizer Haus bei einem weiteren Sturz die Schulter seines Dirigierarms. Am 14. Februar 2002 starb Günter Wand im Berner Oberland.

Matinee : 8.1., 11 Uhr, Rolf-Liebermann-Studio. Podiumsgespräch, Filmvorführungen und Auszüge aus Bruckners Streichquintett. Nur noch Restkarten. CDs : "Günter Wand - The Great Recordings" (28 CDs & Interview-DVD) NDR-Sinfonieorch., Kölner Rundfunk-Sinfonieorch./Bruckner "Sinfonien Nr. 4, 5, 7, 8, 9" Berliner Philh. (Sony Classical).

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