In Wolfgang Schorlaus Politkrimi “Die letzte Flucht“ wird ein Mediziner des Kindsmords verdächtigt und ein Manager der Pharmaindustrie entführt

Ganz am Anfang träumt Dengler einen Frühlingstraum. In weiten Schwüngen fliegt er über eine Wiese hinweg, gelb sprenkelt der Löwenzahn unter ihm das frische Grün. Die Luft ist warm, wohlig. Es soll nicht so bleiben.

Ein Anrufer aus Berlin, Rechtsanwalt von Beruf, erteilt Georg Dengler, Privatdetektiv in Stuttgart, einen Auftrag. Dengler soll einen Freund des Rechtsanwalts von dem Vorwurf reinwaschen, ein neunjähriges Mädchen vergewaltigt und ermordet zu haben. Der Beschuldigte ist wahrlich kein No name : Er ist Professor an der Berliner Charité, ein international renommierter Forscher zudem.

Dengler ist sich nicht sicher, ob er den Auftrag annehmen soll. Einem vermeintlichen Kindsmörder helfen? Eigentlich ein unmöglicher Job, völlig klar. Aber Dengler ist neugierig geworden, fliegt nach Berlin, um Details über die Tat zu erfahren.

Etwa zur selben Zeit wird auf dem Gehweg vor dem Berliner Hotel Adlon ein hochrangiger Manager der Pharmaindustrie überfallen und entführt.

"Die letzte Flucht" ist der sechste Fall, den der in Stuttgart lebende Autor Wolfgang Schorlau seinem Privatdetektiv Dengler auf den fiktiven Leib geschrieben hat. Wie immer bei Schorlau spielt auch diese Geschichte vor einem politisch brisanten Hintergrund. Ging es in "Fremde Wasser" um die Privatisierung der städtischen Wasserwerke, in "Das München-Komplott" um die Anschläge 1980 auf dem Münchner Oktoberfest, so ist in "Die letzte Flucht" die finanzielle Einflussnahme der Pharmaindustrie auf die praktizierenden Ärzte inhaltlich jene Matrix, aus der die Kriminalgeschichte erwächst.

Schorlau, 60, einst Manager in der IT-Branche, erweist sich in seinem aktuellen Roman einmal mehr als großartiger Autor politischer Kriminalromane und als exzellenter Rechercheur.

Zwei Handlungsstränge montiert Schorlau parallel, ohne dass anfangs ersichtlich wird, ob sie in einem und wenn ja, in welchem Zusammenhang stehen könnten: Denglers Ermittlungen in einem offenbar aussichtslosen Fall - schließlich wurden auf der Kleidung des toten Mädchens Spermareste des Professors entdeckt - und das Schicksal des entführten Managers, der in einem Verlies von seinem Entführer zwar zuvorkommend behandelt wird, gleichwohl aber einem Verhör unterzogen wird, das Auskunft darüber geben soll, wie Pharmafirmen Ärzte schmieren.

Georg Dengler, früher beim Bundeskriminalamt in Lohn und Brot, bevor er den Job frustriert schmiss, beschleichen nach Gesprächen mit dem inhaftierten Professor Zweifel an dessen Schuld, gleichwohl die Beweiskette der Polizei lückenlos zu sein scheint. Sorgsam steuert Schorlau seine Figur durch die Wirren dieses Falls, der in den Gängen der Charité eskaliert - und in dessen Verlauf ein Mediziner, nicht allerdings der Beschuldigte, sterben muss. Der Tat dringend verdächtig ist ausgerechnet Dengler, der viel lieber mit Freunden im Basta, einer Kneipe im Erdgeschoss seines Wohnhauses im Stuttgarter Bohnenviertel, sitzen und Grauburgunder trinken würde ...

Stringent und ungemein spannend führt Schorlau seine Handlungsstränge zusammen, wenngleich am Ende ein, zwei kleine Fragezeichen bleiben. Der Qualität von Schorlaus mit atmosphärischen Details und überraschenden Wendungen ausstaffiertem Kriminalroman tut das jedoch keinen Abbruch. Politkrimis, wie Schorlau sie schreibt, sind eine Klasse für sich. Im deutschsprachigen Raum erreicht vielleicht nur noch Wolfgang Kaes dieses Niveau.

Und wer den sechsseitigen Anhang des Romans liest, wird zudem aufgeklärt: Mehr Skandal als der Einfluss der Pharmaindustrie auf das deutsche Gesundheitswesen geht nicht. Das ist kein Frühlingstraum, sondern ein Albtraum.

Wolfgang Schorlau: "Die letzte Flucht" KiWi Paperback, 352 S., 8,99 Euro