In ihrem neuen Roman “Stadt der Engel“ beschäftigt sich Christa Wolf auch mit den Schattenseiten ihrer Vergangenheit.

Berlin. Ein neues Buch von Christa Wolf ist immer ein Ereignis. Das braucht auch den entsprechenden Rahmen. Den bildet seit Jahr und Tag die Berliner Akademie der Künste für die Buchpremiere. Die alte wohlgemerkt, der Düttmann-Bau am Tiergarten. Das ist klassisches West-Terrain. Doch wenn die Schriftsteller-Ikone der verblichenen DDR den Ort bespielt, dann kann's hier auch ganz schön ostig werden. Fans, die schon seit Jahrzehnten an der Dichterin hängen, geben sich dann in großer Zahl ein Stelldichein.

Autoren mit Ost-Biografie, in der Berliner Akademie besonders dominant, sind gleichfalls stark vertreten. Dieses Mal ist sogar der Leiter der Veranstaltung waschechter Ossi: Ingo Schulze sprang für den Journalisten Arno Widmann von der "Frankfurter Rundschau" ein. Der hatte seine Moderation "kurzfristig abgesagt", wie es bei der Begrüßung hieß. Hier brandete erstmals Applaus auf, denn Widmann, der das Buch auch rezensiert hat, kam zu dem Ergebnis, es sei "ungenießbar". Da passt natürlich Ingo Schulze besser, der die berühmte Kollegin umstandslos als "liebe Christa" anspricht und ihr nach der Lesung Fragen stellt, die sie nicht in Bedrängnis bringen.

Ihr Roman heißt zwar "Stadt der Engel". Und damit ist Los Angeles gemeint, wo Christa Wolf 1992/93 neun Monate lang als Stipendiatin des Getty-Centers weilte. Doch obwohl Amerika in vielen, präzis beobachteten Facetten vorkommt, geht es im Kern dann doch um etwas anderes. Um Selbsterforschung geht es, auch um Selbstrechtfertigung. Kurz vor dem Abflug in die Neue Welt war damals Wolfs IM-Akte aufgetaucht, ein dünner Hefter nur, doch rief er Ereignisse herauf, die sie vergessen hatte. Wie konnte sie? Sie, die in ihrem Werk so viel Gedächtnisarbeit leistete, warum hat ausgerechnet sie nicht mehr daran gedacht? Dies ist der Ausgangspunkt für eine mitunter quälend bohrende Selbstbeschreibung, die Material aus allen ihren Lebensabschnitten zutage fördert.

Das war es auch, was man am Mittwochabend in Berlin zu hören bekam. Seit Tagen war das Studio der Akademie ausverkauft. Christa Wolfs Auftritt dann der altbekannte: ungekünstelt, sachlich, bescheiden. Und wieder diese ganz unverwechselbare, eigentümliche Atmosphäre. Eine Mischung aus Andacht und Unterrichtsstunde, zu intellektuell und emotional zu karg, um wirklich feierlich zu sein, aber doch auch in gewisser Weise weihevoll genug, um jenes innere Bewegtsein zu erzeugen, das sich sonst eher bei einem großen Familienfest einstellt als bei einer Lesung.

Ihre Arbeit, diese Seelen- und Aufklärungsarbeit, einen Roman zu nennen, führt insofern in die Irre, als hier keine erfundene, womöglich nicht mal eine ausfantasierte Geschichte vorliegt. Selbstbefragung, Selbstvergewisserung ist, was sich Christa Wolf vorgenommen hat. Und herausgekommen ist dabei eine gigantische, facettenreiche Lebensbeichte, eingebettet in jenes Jahrhundert, das das ihre war: das Zwanzigste und somit eine Schreckensepoche, wie sie der Menschheit hoffentlich nie mehr beschieden sein wird.

Verwickelt und verzwickt, bestehend aus lauter Anläufen und Abbrüchen, Aufschwüngen und Abstürzen, ist auch das literarische Verfahren, das allein und dank seiner Kunstfertigkeit die Gattungsbezeichnung "Roman" rechtfertigen würde. Denn kunstvoll verwoben, kontrastreich gegliedert, unter wechselnder Beleuchtung angestrahlt, bietet sich das Mosaik dar, das jetzt vor uns liegt. Ein sprachliches Kunstwerk ist es allemal. Ein Zeugnis vom Triumph des ordnenden Geistes über das Chaos der Gefühle.

Was gab es nun in Berlin Neues? War etwas anders? Dass die "subjektive Authentizität", um die sich Christa Wolf in allen ihren Selbsterkundungen bemüht, in den gelesenen Passagen vorwaltete, sicher nicht. Dass sie glaubte, vor allem die "Ost-Leute hier", wie es ihr spontan entfuhr, würden, weil sie es kennen, lachen, als sie beschrieb, wie bei der Einreise in die USA der Grenzer beängstigend lange Telefonate führt - das konnte gleichfalls nicht überraschen. Dass sie solche bangen Momente der Transitreisenden auf dem Weg von West-Deutschland und durch die DDR nach West-Berlin auch erlebt hat, das fällt ihr eben nicht so ohne Weiteres ein. Schließlich die gewunden angebahnte, dann aber doch entwaffnend eindeutige Formulierung: "Ja, wir haben dieses kleine Land geliebt." (Womit die DDR gemeint ist), auch dieses hat wohl niemanden verwundert.

Was einen allenfalls erstaunt hat und was im Anschluss an die Lesung auch mancher Altbundesrepublikaner zu Protokoll gab, das ist: So fremd die Lebenswelt, die Christa Wolf verströmt, einem ist, so wenig man politisch mit ihr übereinstimmt - es stört doch kaum. Der Eindruck, der sich letztlich einstellt, ist der von großer innerer Wahrhaftigkeit. Ja, sie ist ganz sie selbst, in ihrem schweren, von Krankheiten und Medikamenten gezeichneten Körper, in ihrer protestantischen, nüchternen Art. Das schafft Aura. Sollte es am Ende das sein, was uns der Osten oft voraushat?

Christa Wolf: "Stadt der Engel", Suhrkamp, 416 Seiten, 24,80 Euro. Die Autorin liest am 25. Juni auf Einladung des Hamburger Literaturhauses im Rolf-Liebermann-Studio, die Lesung ist ausverkauft