Der Held in Richard Yates' erstmals ins Deutsche übersetztem Roman Ruhestörung ist ein Jammerlappen, Frauenheld und Säufer

Er könne nicht nach Hause kommen, versucht John Wilder seiner Frau am Telefon klarzumachen. Als die nicht begreifen will, was ihren Mann daran hindere, sein Glas auszutrinken, die Rechnung zu bezahlen und in die Wohnung zu Frau und Sohn zurückzukehren, wird er deutlicher: "Okay, hier ist noch ein Grund. Da war eine Frau in Chicago, eine aus der PR-Abteilung einer Whiskey-Brennerei. Ich habe sie im Palmer House fünfmal gevögelt. Wie findest du das?" Und als Janice, an derlei Kummer gewöhnt, immer noch nicht versteht, bekennt er: "Willst du es wirklich wissen, Schatz? Weil ich Angst habe, dass ich euch umbringen werde, deswegen. Euch beide." Wenige Stunden später ist John Wilder zum ersten Mal Patient in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses.

John Wilder, 36 Jahre alt, von Beruf Anzeigenverkäufer und außerdem notorischer Säufer, ist die Hauptfigur in dem Roman "Ruhestörung" des amerikanischen Schriftstellers Richard Yates. Der Roman, angesiedelt in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, also zur Zeit von Kennedys kometenhaftem Aufstieg und seinem jähen Tod im November 1963, erzählt eine Alkoholikerbiografie, die zu Therapeuten und in Therapien führt und dabei dennoch eine Familie und eine Karriere ruiniert. Es ist die ätzende Geschichte eines Scheiterns, die, wie alle von Yates' Romanen, starke autobiografische Züge aufweist.

Sein Autor, 1926 in Yonkers bei New York geboren und 1992 verarmt gestorben, war zu Lebzeiten und in seiner Heimat zwar von Kritikern beachtet, fand aber nach seinem meisterhaften Debüt "Zeiten des Aufruhrs" kaum noch ein Publikum. Erst seit er von jüngeren Schriftstellern wie Richard Ford, Raymond Carver und Stewart O'Nan wiederentdeckt und nobilitiert wurde und vor allem nach der Verfilmung seines 1961 publizierten Erstlings mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio in den Hauptrollen, interessiert sich auch der deutschsprachige Buchmarkt für ihn: Der Verlag DVA präsentiert nunmehr sein Gesamtwerk. Yates gelingt es, das spezifische Lebensgefühl einer Generation überaus präzise zu beschreiben und die Maskerade des Alltags mit knappen Strichen und wie nebenbei zu entlarven. Dieser klare und unverstellte Blick auf die Konflikte im menschlichen Miteinander, auf die Tristesse eines Lebens, das selten das bereithält, was man sich wünscht, zeigt sich vor allem in den Romanen "Zeiten des Aufruhrs" und "Easter Parade".

Im Roman "Ruhestörung", seinem dritten, 1975 erstmals erschienen, konzentriert sich Richard Yates ganz auf die Figur des John Wilder und zeichnet ihn als Jammerlappen voller Selbstmitleid und als Frauenheld ohne Gewissen. Ein Kotzbrocken, der nach einigen Whiskeys seinem Freund klagt: "Warum haben wir beide so unscheinbare Frauen geheiratet? ... Verdammt, in meinem Fall ist es verständlich, ich war schon immer ein Schwächling. Als Kind haben mir immer alle gesagt, ich schaue aus wie Mickey Rooney, und mit so einem Handicap ist es nicht gerade leicht, gut aussehende Mädchen zu kriegen. Ich glaube, ich habe mich für Janice entschieden, weil sie früher diese wunderbaren großen Titten hatte. Wahrscheinlich habe ich gedacht, die kurzen Beine und die breiten Schultern und das Gesicht würde ich irgendwann nicht mehr sehen. Ich wollte mich einfach für immer zwischen diesen Titten vergraben und die Welt draußen vergessen."

Um die Welt zu vergessen, braucht Wilder inzwischen nicht mehr seine Ehefrau, sondern Unmengen an Alkohol. Und damit hat Richard Yates in dieser Figur auch ein Bild seiner selbst geschaffen. Wie dieser hat er ein massives Alkoholproblem, erleidet ebenso mehrere Nervenzusammenbrüche, landet in psychiatrischen Anstalten - am Ende ist Wilder psychisch und physisch völlig ruiniert. Diesen, wie es scheint, unaufhaltsamen Weg in den totalen Niedergang erzählt der Autor auf seine unaufgeregte Weise, aber es mangelt in diesem Roman doch an einer Reibefläche, die die Erzählung zum Glühen bringen würde. So verwundert etwa, dass der Autor wenig Interesse am Zerwürfnis des Ehepaares Wilder zeigt oder am Konflikt zwischen dem trinkenden Vater und seinem ihn beobachtenden Sohn. Diese schwierigen Konstellationen verliert der Roman sehr schnell aus dem Blick.

Richard Yates bemerkte einmal: "Sollte mein Werk ein Thema haben, vermute ich, dass es ein recht simples ist: dass nämlich die meisten Menschen unrettbar allein sind, und darin liegt ihre Tragödie." Wenn auch diese verknappte Verallgemeinerung selbstverständlich ebenso für "Ruhestörung" gelten darf, so bleibt dieser Roman dennoch hinter der verstörenden Kraft der beiden früheren Romane zurück.

Richard Yates: Ruhestörung Aus dem Englischen von Anette Grube. Deutsche Verlags-Anstalt, 316 Seiten, 19,95 Euro