Schriftsteller Ingo Schulze verbringt ein Jahr in Italien und findet “Orangen und Engel“, überwältigende Kunst und Alltagsgeschichten.

Hamburg. Italien hat die Fantasie des Germanen stets beflügelt, manch einer konnte dort besonders schön dichten oder stellte die klügsten Betrachtungen an. Die deutsche Gegenwartsliteratur hat seit vielen Jahren eine besondere Beziehung zu dem Land jenseits der Alpen. 1957 war der erste Stipendiat in der Villa Massimo, Ingo Schulze zog 50 Jahre später ein. Der Berliner Dichter, das zeigen seine feinen italienischen Skizzen "Orangen und Engel", die dieser Tage erschienen sind, ist mit einer famosen Einbildungskraft gesegnet. Das hat ihn, neben Uwe Tellkamp, zum aktuell besten Autor seiner Generation und Zunge gemacht, im Falle des Besuchs des Aquariums in Neapel vermag er gar durch die Gabe der Imagination, das Universalgenie zu gewahren. Der Tintenfisch hinter Glas räkelt sich für den Betrachter wie Tischbeins Goethe. Und Schulze staunt.

Das tut er oft während seines Jahres in Arkadien, er ist Tourist. Aber auch Beobachter und Geschichtenerzähler, und deshalb ist "Orangen und Engel" kein bloßer Reisebericht. Das ist das Buch sicherlich auch. Literarische Qualität gewinnt es freilich, wenn der Erzähler, der lediglich Wert darauf legt, einem deutschen Stipendiaten der Villa Massimo ähnlich zu sein, seiner Berufung nachkommt. Dann sind all die Fresken, die Plätze, Höfe und Gassen, die Menschen keine Gegenstände der Analyse, des ethnologischen Interesses. Sondern der Verzauberung, die dem Besuch der Fremde innewohnt, der poetischen Inspiration.

So wird das Jahr in Italien, die Erfahrung des anderen, für Schulze ein literarisch fruchtbares. Die Geschichten haben allesamt einen meinungsstarken Ich-Erzähler, er hat, wie der Autor, zwei kleine Kinder und eine Frau. Einkaufen geht er im Supermercato. Dort sind stets dienstbare Geister zur Hand. Illegale Einwanderer, die die Tüten der Kunden packen und die Einkäufe nach Hause tragen. Einer dieser Illegalen, "Augusto, der Richter", so heißt die Story, trägt dem von einem Achillessehnenriss Geplagten den Wein, das Bier und das Fleisch, er sieht indisch aus und ist doch Rumäne, wie sich herausstellt. Er stammt aus Siebenbürgen und kann Deutsch, er will selbst Dichter sein und erzählt dem eigentlichen Erzähler etwas. Und zwar die Erlebnisse von ihm, dem Träger, der einer schönen Frau unter die Arme griff und in eine bröckelnde Villa eingeladen wurde. Dort geriet er in einen erotischen Taumel, in ein geschmackloses Bacchusfest. Das erklärt die Striemen auf seinem Körper und die Irritiertheit des Haupterzählers.

Dass er diesen Augusto selbst kennengelernt hat, behauptet Schulze nicht einmal - er habe sich von den Geschichten aus "Tausendundeiner Nacht" inspirieren lassen, sagte der Schriftsteller Ulrich Wickert in einem Interview des NDR. Schulze, der seit Kurzem an der Akademie der Künste neuer Direktor der Sektion Literatur ist, ist ein Fabulierer, er bedient sich im Steinbruch der Worte und Literaturen. In Italien, der (zweiten) Wiege des Abendlands, vermischt also ein deutscher Dichter die orientalische Tradition mit der Italiensehnsucht der eigenen Kultur.

Im Gepäck hat der gute Bildungsbürger Schulze den Goethe-Zeitgenossen Johann Gottfried Seume, auch er ein Italienreisender. So stellt sich der Wahlitaliener Schulze, dessen Gegenwartsbetrachtungen ("Simple Storys", "Neue Leben") große Würfe waren, in die Reihe der Ahnen. Was bei Schulzes angenehm selbstironischer Art ("So ungefähr dozierte ich") niemals bemüht wirkt, sondern eher wie eine selbstbewusste Erdung. Schließlich lässt er sich im geschichtstrunkenen Setting, in den Ruinen des alten Römischen Reiches, von den Alltagsgeschichten verführen, die er überall nur auflesen muss.

Auf dem Piccolo Parco lernt er den "Candy Man" kennen, einen älteren Herrn, der eine traurige deutsche Vergangenheit hat. Die Nachdenklichkeit des Textes, der mit mancherlei Schlüsselloch-Szenen aufwartet (Schulze ist immer mit seiner Familie unterwegs, die Änderung der Namen dürfte darauf hindeuten, dass der Erzähler manches Erlebnis verfremdet), spiegelt sich im Schicksal des Afrika-Flüchtlings Idris und in den Schlussfolgerungen des Erzählers. Der ist "ganz von dem Gedanken erfüllt, dass niemand von uns weiß, wie er dem eigenen Tod entgehen wird", aber er fühlt sich in Süditalien "immer am Nabel der Welt": in Erice, Trapani, Palermo und Monreale.

Man kann von antiker Kunst und Architektur schwärmen und trotzdem nicht den Blick für die Alltäglichkeit des Unglücks verlieren. "Engel und Orangen" ist auch ein Buch über die Kunsterfahrung und die historische Erschütterung. Diese überkommt den Erzähler beim Anblick des Tempels der Athene in Syrakus. Antike Säulen, 2500 Jahre alt. "Was für ein Wunder, dachte ich, dass auch ich noch an einer dieser Säulen lehnen konnte, da doch in unserer Welt kaum ein paar Jahrhunderte lang ein Stein auf dem anderen blieb."

Ingo Schulze Orangen und Engel. Italienische Skizzen. Mit Fotografien von Matthias Hoch (Berlin Verlag). 186 Seiten, 22 Euro