Mit verstörenden Werken hat Louise Bourgeois ihre Kindheit bewältigt. Jetzt ist die weltberühmte Künstlerin gestorben

Hamburg. Irgendwann um 1918 in einem Landhaus in Choisy-le Roi südlich von Paris: Der Vater redet, er schimpft, demütigt die Mutter, die er seit Jahren mit der englischen Haushälterin betrügt, und spottet über das kleine Mädchen, das wortlos am Abendbrottisch sitzt. Er beachtet nicht, wie das Kind aus Brot kleine Figuren formt, Skulpturen eines Mannes. Hoch konzentriert schafft das Kind kleine Ebenbilder des Vaters, um sie anschließend zu zerstückeln, zu zerstören. Sie wird das später immer wieder tun, die Figuren sind dann nicht mehr aus Brot, nicht mehr in kleinem Format, sondern in großem Maßstab, in einer Fülle von Formen und Materialien.

"Es war eine Flucht vor meinem Vater. Ich habe zahlreiche Arbeiten zu dem Thema 'The Destruction of the Father' gemacht. Ich vergebe nicht und ich vergesse nicht. Das ist das Motto, das meine Arbeit nährt", hat Louise Bourgeois in einem Interview gesagt. Am Montag ist die französisch-amerikanische Künstlerin im Alter von 98 Jahren in New York gestorben.

Spät, mit mehr als 70 Lebensjahren, ist Bourgeois zu künstlerischem Weltruhm gelangt. Die Außenseiterin, die Kontakte zum Kreis der Surrealisten um Breton und Max Ernst unterhielt und in Ausstellungen von Protagonisten des abstrakten Expressionismus vertreten war, ohne eine dieser Gruppen wirklich anzugehören, ist zeitlebens Einzelgängerin geblieben. Eine Bildhauerin, deren riesige, bis zu neun Meter hohe Spinnenwesen von Ausstellungsbesuchern in aller Welt meist als befremdlich und bedrohlich empfunden wurden, obwohl sie eigentlich als tröstlich und behütend gedacht und gemeint waren. Die Spinne, das war für Louise Bourgeois das Symbol für die Mutter, eine Weberin, die sie als Freundin und Behüterin erlebte und der sie zeitlebens eng verbunden blieb.

Schon als Kind zeichnet Bourgeois, ihre Skizzen von Mustern und Ornamenten dienen als Vorlagen in der Werkstatt der Eltern, die auf die Restaurierung barocker Textilien spezialisiert ist.

Mitte der 30er-Jahre absolviert sie eine künstlerische Ausbildung an renommierten Schulen wie der Ecole du Louvre und wechselt 1938 in das Atelier von Fernand Léger. Im selben Jahr heiratet sie den amerikanischen Kunsthistoriker und Ausstellungskurator Robert Goldwater, mit dem sie in die USA übersiedelt. Die Neue Welt empfindet sie als Befreiung. "Hier kannst du so verrückt sein, wie du willst, das ist Freiheit. In Europa ist alles eingeschränkt, voller Gefängnisse", sagt sie später. Bourgeois stellt in New York erstmals 1945 Zeichnungen aus, experimentiert aber vor allem mit Skulpturen und Objekten.

Dafür benutzt sie die unterschiedlichsten Materialien, von Gips über Holz bis hin zu Bronze und Marmor. Ihre frühen, noch vom Surrealismus beeinflussten Werke wirken oft filigran und zerbrechlich, doch später arbeitet sie immer raumgreifender, schafft Installationen, die ganze Zimmer füllen konnten. Mit einer spektakulären Installation bezieht sie sich 1974 erneut auf ihre traumatischen Kindheitserfahrungen: "The Destruction of the Father" war eine unheimlich rot ausgeleuchtete Höhle, in der phallusähnliche Formen auf einer Art Tisch zu liegen scheinen - die Reste einer kannibalischen Mahlzeit. Phallische Formen und sexuelle Bezüge spielen schon seit Ende der 60er-Jahre in Bourgeois' Werk eine immer größere Rolle, wie die 1968 entstandene Marmorskulptur "Janus Fleuri" zeigt.

Doch damals ist Bourgeois noch eine rein amerikanische Größe, die internationale Karriere gelingt ihr erst mit Beginn der 80er-Jahre. Den Auftakt bildet 1982 eine Retrospektive, die ihr das New Yorker MoMA widmet, nun folgen Ausstellungen in allen wichtigen Kunstzentren. 1992 und 2002 ist sie auf der Documenta vertreten, 1993 auf der Biennale Venedig.

Als einzige deutsche Station zeigen die Hamburger Deichtorhallen 1996 die Ausstellung "Der Ort des Gedächtnisses", die mit 50 Skulpturen und Installationen sowie 27 Zeichnungen aus den Jahren 1946 bis 1995 den Werdegang der Künstlerin nachzeichnen. Ihre Werke bringen auf beklemmende Weise die Beschädigungen der eigenen Biografie zum Ausdruck, berühren zugleich aber Menschen in aller Welt und ziehen sie in ihren Bann.

Am Anfang ihrer Karriere schrieb sie: "Es ist schwer, ein Künstler zu sein und die Tür zu den Träumen verschlossen zu halten." Louise Bourgeois, die das Magazin "Capital" 2007 nach Gerhard Richter, Sigmar Polke, Bruce Nauman und Rosemarie Trockel auf Platz fünf der weltweit bedeutendsten lebenden Künstler setzte, hat als Künstlerin die Tür weit geöffnet - für ihre Träume, die fast immer Albträume gewesen sind.