Die Putzkolonne der O2 World beseitigt jetzt noch die von der Rockband KISS zum Konzertende angehäuften Konfetti-Berge

Hamburg. Wer noch nicht weiß, was er im nächsten Leben werden will: Brusthaar von KISS-Sänger Paul Stanley zu sein wäre eine tolle Aufgabe. Nach zwei Stunden wäre man von der Suppe aus Schweiß und schwarz-weißer Schminke, die vom Gesicht herunterläuft, schön verklebt. Und angesengt von den minütlichen Feuerstößen der Pyrotechniker. Aber mit etwas Glück warten Backstage schon rüstige Groupie-Veteraninnen der "KISS Army", wie sich die große Fangemeinde seit Jahrzehnten nennt. Die kämmen die Wolle sorgfältig durch, sofern sie nicht um 23 Uhr zurück im Heim sein müssen.

Leider zünden Witze über rockende Riester-Rentner eigentlich nicht bei KISS. Das Publikum am Montag in der O2 World, respektable 10 000 Köpfe stark, vereint längst mehrere Generationen. Der jüngste entdeckte und mit großen Kopfhörern geschützte Fan dürfte um 10 Jahre alt sein, der älteste knapp 70 - beide geschminkt wie die Band, die auf der Bühne steht.

Aber was heißt "stehen" bei KISS? Beim Eröffnungssong "Modern Day Deliah" posieren Gene Simmons, 60, Paul Stanley, 58, Tommy Thayer, 49, und (am Schlagzeug sitzend) Eric Singer, 52, auf einer riesigen, schwenkbaren Hebebühne, umgeben vom traditionellen Feuer- und Nebelzauber. Im Verlauf des Konzerts werden sie wie Simmons noch per Seil an die Hallendecke gezogen oder wie Stanley quer durch die Arena auf eine Bühne mitten in die Menge befördert. Auf riesigen Plateausohlen staksen sie über die Bretter und beweisen, trotz erderschütternder Kanonenschläge, erstaunliche Standfestigkeit.

Wer KISS nach fast 40 Jahren Comic- und Rockzirkus-Show immer noch aufwendig-oberflächliche Ablenkung von schlichten, aber herrlich eingängigen Songs wie "Deuce" oder "Love Gun" vorwerfen will, sollte eines bedenken: Wenn man einem beliebigen Menschen irgendwo in Nordamerika oder Europa einen nur einsekündigen Videoausschnitt eines KISS-Konzerts zeigt, wird er mit hoher Wahrscheinlichkeit erkennen, um wen es sich handelt. Ein gleichartiges Experiment mit Lady Gaga würde wohl zur Verwechslung mit Madonna, Pink oder Christina Aguilera führen.

KISS ist eine unverkennbare Marke, eine mächtige Geld- und Unterhaltungsmaschine, längst unantastbar. Die Songs des aktuellen Albums "Sonic Boom" sind abgesehen vom düsteren "I'm An Animal" unauffällig und kein echter Ersatz für ungespielte Klassiker wie "Strutter", Gene Simmons Zungenschlag und Kunstblut-Gespotze tausendmal gesehen, aber Kurzweil ist immer garantiert.

Vor allem Impressario Paul Stanley, dessen Aussprache von "Hamburg" bemerkenswert hanseatisch-korrekt klingt, ist fast mehr mit dem erfolgreichen Animieren des Publikums beschäftigt als mit seiner Gitarre. Und wenn er vor "Detroit Rock City" auch Hamburg zur Rockmetropole adelt, hat das besonderes Gewicht. Dankbar singen die 10 000 inklusive Autor "Lick It Up" und "Shout It Out Loud" mit.

Der großartige Moment - Zufall oder Kalkül? - folgt nach dem ewigen Discobrenner "I Was Made For Lovin' You": Zur Hymne "God Gave Rock 'n' Roll To You" erscheinen auf den LED-Bildschirmstapeln im Hintergrund Bilder von den Beatles und Eric Clapton. Die Beatles feiern dieses Jahr das 50. Jubiläum ihres ersten Hamburg-Konzerts, und Clapton spielt morgen in der O2 World. Das passt ja perfekt.

"ALL GO!" (alles muss raus) stand am Ende handschriftlich ergänzt auf der KISS-Setliste. Zu "Rock And Roll All Nite" wird die Spezialeffektkiste komplett geleert, minutenlang regnet es Konfetti. Größer ist besser, die uramerikanische Devise der New Yorker, ist wieder aufgegangen.

Diese Band muss man sich weiterhin nicht abschminken.