Fast vergessen und fast verloren, wird ein 1909 abgerissenes Landhaus in einer beispiellosen Aktion zu neuem Leben erweckt.

Hamburg. Von neugierigen Blicken lassen sich die Restauratoren nicht stören, unverdrossen bearbeiten sie in den Ausstellungsräumen im Erdgeschoss des Museums für Hamburgische Geschichte historische Holzpaneele, fahnden auf wurmstichigen Supraporten nach verborgenen Farbschichten und vergleichen abgerissene Tapetenreste mit den Interieurs auf historischen Fotografien. Gern lassen sie sich von den Ausstellungsbesuchern über die Schultern schauen, beantworten geduldig Fragen und berichten, was es mit diesem Projekt auf sich hat, das den schönen Namen "Wachgeküsst" trägt.

Tatsächlich erinnert die Geschichte, um die es hier geht, ein wenig an das Märchen von Dornröschen, das durch die Ungunst der Verhältnisse 100 Jahre lang im Tiefschlaf ausharren musste, bevor ein rettender Königssohn die schlafende Schöne schließlich wachküsste.

Es beginnt in Hamburg-Hamm, wo sich wohlhabende Kaufleute seit Anfang des 19. Jahrhunderts stilvolle klassizistische Villen erbauen ließen. Doch um 1900 war es mit der Beschaulichkeit im Grünen vorbei. Den Hanseaten, deren Familien manchmal seit Jahrzehnten hier ihre Sommer verbrachten, wurde es zu laut und zu schmutzig. Sie kehrten Hamm den Rücken, denn der stille Villenvorort wandelte sich zu einem Stadtteil mit Mietskasernen, Werkstätten, Straßen und einer Bahnlinie, auf deren Schienen Güterzüge ratterten.

1909 packten auch die Angehörigen der Familie Merck ihre Koffer und räumten die prächtige Villa an der Hammer Landstraße 238, die sich der steinreiche Kaufmann Johann Hinrich Rücker 1830 von dem dänischen Architekten Axel Bundsen hatte errichten lassen. Doch bevor auch hier die Abrisskommandos mit Sprengladungen und Spitzhacken anrückten, besichtigte Otto Lauffer, Gründungsdirektor des Museums für Hamburgische Geschichte, das prächtige Landhaus, das er unbedingt vor dem Untergang bewahren wollte.

Deshalb ließ er das Gebäude komplett vermessen, zeichnerisch und fotografisch dokumentieren und kaufte große Teile der Innenausstattung. Behutsam entfernten Museumsmitarbeiter Wand- und Deckenverkleidungen, Tapeten, Türen, Supraporten und Wandspiegel. Auch Öfen, Tische, Betten und andere wertvolle Teile des Mobiliars wurden abtransportiert und eingelagert. Otto Lauffer hatte eine Vision: Er plante die Wiedergeburt des Landhauses in einem Flügel des Museums für Hamburgische Geschichte.

Gemeinsam mit Hamburgs Oberbaudirektor Fritz Schumacher konzipierte Lauffer im zweiten Stock des Museumsgebäudes, das von 1914 bis 1922 am Holstenwall errichtet wurde, eine Raumfolge, die exakt dem Grundriss des Landhauses entsprach. Hier sollten der prächtige Gartensaal, das Musikzimmer, das Biedermeier-Zimmer und die Vorhalle neu erstehen - als eindrucksvolles Beispiel hanseatischer Wohnkultur im 19. Jahrhundert.

Doch es kam anders: Inflation, Wirtschaftskrise und Krieg verhinderten Lauffers Vision, die später sogar völlig in Vergessenheit geriet. Walter Hävernick, der Lauffer 1945 als Direktor folgte, hatte ohnehin andere Präferenzen. Technik, Infrastruktur und Verkehrsentwicklung standen im Mittelpunkt seiner Museumsarbeit, so kam ihm die leer stehende Raumflucht im zweiten Obergeschoss gerade recht, um hier eine große Modelleisenbahnanlage einzurichten, die bis heute dort in Betrieb ist. Jahrzehntelang kümmerte sich kein Mensch um die Reste des Landhauses Rücker, die in verschiedenen Depots lagerten, teilweise verrotteten und schon fast verloren waren.

Erst vor kurzer Zeit begann sich das zu ändern, als Restauratoren und Kuratoren auf das eingelagerte Material stießen und Lauffers Pläne wiederentdeckten.

Aber was heißt das konkret? Kann man die Villa tatsächlich mit 100-jähriger Verspätung am ursprünglich vorgesehenen Ort zu neuem Leben erwecken? Und was soll dann aus der Modelleisenbahn-Anlage werden, die an diesem Ort auch schon eine jahrzehntelange Geschichte hat?

Museumsdirektorin Lisa Kosok und ihre Mitarbeiter wissen genau, dass sie vor einer faszinierenden, zugleich aber äußerst schwierigen Aufgabe stehen. Hinzu kommt die prekäre Finanzlage der Museumsstiftung, die keinerlei Spielräume für Investitionen lässt. Über Kosten und konkrete Zahlen will Lisa Kosok im Moment noch gar nicht reden, aber eines stellt sie von vornherein klar: Ohne Sponsoren wird es nicht gehen. Doch da sich unter anderem mit dem Deutschen Tapeteninstitut, der Stiftung Denkmalpflege, der Hamburger Feuerkasse, der Hapag-Lloyd-Stiftung und dem Freundeskreis des Museums schon eine Reihe von Unterstützern begeistern ließen, kann das Museum jetzt die ersten Schritte gehen: Unter der Leitung der Restauratorin Silke Beiner-Büth beginnt heute das Projekt "Wachgeküsst -Die Wiederentdeckung eines hanseatischen Landhauses (1830-1909)", bei dem es nicht nur um die öffentlich zu besichtigende Restaurierung der historischen Bauteile geht, sondern auch um Fragen der Stadtentwicklung, der Denkmalpflege und nicht zuletzt auch um die Wiederentdeckung der Lebensweise und Biografien der früheren Bewohner. Auch dazu sind glücklicherweise zahlreiche schriftliche und bildliche Dokumente erhalten geblieben, die nun neu entdeckt werden können. "Es geht uns um einen liebevollen und engagierten Umgang mit diesem Erbe", sagt die Restauratorin, die auch Studenten der Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim in das Projekt mit einbeziehen wird.

Wenn alles gut geht und sich weitere Sponsoren finden, könnte der Fahrplan in den kommenden Jahren folgendermaßen aussehen: Die Modelleisenbahn wird in einen anderen Raum verlegt und im zweiten Stock des Museums entsteht nach und nach ein prächtiges klassizistisches Raumensemble, eine Art zweites Jenisch-Haus, das ein glanzvoller Veranstaltungsort werden könnte und vom großbürgerlichen Lebensstil des hanseatischen Bürgertums im 19. Jahrhundert kündet. "Wo, wenn nicht hier", fragt Lisa Kosok, "sollte der Ort sein, an dem die Kultur jener Hanseaten zu erleben ist, die diese Stadt so nachhaltig geprägt haben?"

Holstenwall 24. Öffentliche Restaurierungsschau, bis Dezember 2010, Di-Sa 10.00-17.00, So 10.00-18.00 geöffnet.