Das deutsche Kino ist voll von Zwangsneurotikern und schrägen Typen, zum Beispiel in “Vincent will Meer“ von Regisseur Ralf Huettner.

Hamburg. Neurosen haben Konjunktur. Zumindest im deutschen Arthouse-Kino, das seit jeher eine Schwäche hat für die gesellschaftlichen Außenseiter, für die in watteweichen Fernsehromanzen und plotfixierten Genre-Movies kein rechter Platz ist. Umso mehr nehmen sich die Nachwuchsregisseure ihrer an. Rollstuhlfahrer, Essgestörte und Soziopathen sind ihre Helden, innere Zwänge und nach außen getragene Macken die treibenden Handlungselemente. Putzwahnsinniger trifft Multivitaminsaftfanatiker trifft Sammelwütigen.

Während das Fernsehen die Hoheit über Krankenhausserien und Krebs-Dramen innehat, konzentriert sich das Kino auf Figuren mit einem kräftigen Hau. Poetischer ausgedrückt: auf Menschen mit einer anderen Perspektive aufs Leben. Auch das Drama "vincent will meer", das morgen im Kino startet, kommt in Sachen Neurosenzirkus ambitioniert daher. Liest man die Inhaltsangabe: Junger Mann mit Tourette-Syndrom verliebt sich in Magersüchtige und bricht mit ihr aus Klinik aus, möchte man eigentlich nur noch schreiend weglaufen - und ist am Ende froh, dass man doch bis zum Abspann geblieben ist.

Denn im Gegensatz zu vielen Regisseuren, die glauben, ihre Figuren seien allein schon aufgrund ihres Fimmels interessant, erzählt Ralf Huettner (nach einem Drehbuch des Hauptdarstellers Florian David Fitz) eine tragikomische Geschichte mit - tatsächlich! - glaubwürdigen Figuren. Gestört im pathologischen Sinne sind sie zwar auch, aber den Machern sind darüber hinaus noch zwei, drei weitere Eigenschaften pro Person eingefallen. Und eben: eine gute Geschichte.

Der Film erzählt von Menschen, die vor dem Leben davonlaufen - und dabei tragen sie halt, wie in Vincents Fall, eine Bonbondose mit der Asche der verstorbenen Mutter mit sich oder wie Marie (Karoline Herfurth) eine Literfalsche Cola Light als Nahrungsersatz. "vincent will meer" ist nicht schräg um des Schrägseins willen, nicht aufgesetzt anders, um dem Anspruch des Kunstkinos zu genügen und sich vom bösen Fernsehen zu emanzipieren, sondern beinahe beiläufig und angenehm unehrgeizig, was erzählerische Ambition angeht.

Weil kaum ein deutscher Regisseur kann, was Woody Allen kann, nämlich persönliche Neurosen in Pointen auflösen, müssen sich die Zuschauer hierzulande oft damit begnügen, mit den Figuren um sich selbst zu kreisen. Um wahnsinnig ermüdende, redundante Befindlichkeiten. Da sieht man, in Almut Gettos "Ganz nah bei dir", 90 Minuten lang einem Autisten zu, dessen einziger Freund eine Schildkröte ist (Metapher!). Läuft mit einer blinden jungen Frau durch Berlin, die sich an einem Cellokasten (dem Leben!) abschleppt. Oder sortiert, im viel gelobten "Schwerkraft" von Maximilian Erlenwein, mit einem kommunikationsgestörten Nerd die Garderobe, die aus 150 identisch anmutenden, wie mit dem Lineal gezirkelten Hemden besteht (alles muss schön seine Ordnung haben, wenn schon das eigene Leben ein Haufen Chaos ist!). "Normal ist was für Arschlöcher" - dieser Satz fällt hier nicht von ungefähr. Was in dieser Art Filmen passiert, ist Schwitzen, Warten, Heulen, Durchdrehen. In solchen Momenten sehnt man sich Til Schweiger und Michael "Bully" Herbig samt ihren prallen Komödien herbei. Und das will was heißen. Dass auch deren Protagonisten, siehe "Barfuß", alles andere als normal sind, ist eine andere Geschichte.

Bleibt also die Frage, ob das Kino nur auf gesellschaftliche Entwicklungen reagiert. Oder ob es dem krampfigen Bemühen um Originalität zu verdanken ist, dass man sich im Kinosessel fühlt wie in einer Langzeittherapie. Wohl eher Letzteres - auch wenn sich vielleicht immer mehr Menschen im Alltag außerstande sehen, mit den Normalen, Gesunden mitzuhalten. Schrullige, nonkonformistische Figuren mögen Anti-Mainstream sein, das allein macht sie noch nicht interessant. Den Respekt von Kollegen kann man damit vielleicht gewinnen, die Herzen der Zuschauer nicht.

Kino sei, schöne Frauen schöne Dinge tun zu lassen, lautet ein inflationär zitiertes Bonmot von François Truffaut. Dieser Tage heißt Nachwuchskino in Deutschland, Borderlinern, Neurotikern und Komplexbeladenen dabei zuzuschauen, wie sie therapiebedürftige Dinge tun. Im Falle von "vincent will meer" ist das ausnahmsweise ein Glücksfall.