“Sie werden nicht behaupten können, schon einmal etwas Ähnliches gesehen zu haben.“ Gleichgültig lässt Brasilia niemanden.

Brasilia. "Sie werden die Paläste Brasilias sehen", sagt der 102 Jahre alte Architekt Oscar Niemeyer manchen Besuchern der brasilianischen Hauptstadt. "Die mögen Ihnen gefallen oder auch nicht. Aber Sie werden nicht behaupten können, schon einmal etwas Ähnliches gesehen zu haben." Gleichgültig lässt Brasilia tatsächlich niemanden.

In diesem Jahr wird die von Niemeyer und dem Stadtplaner Lúcio Costa entworfene Stadt 50 Jahre alt. Am 21. April 1960 weihte Präsident Juscelino Kubitschek die neue Hauptstadt im Landesinneren ein. Buchstäblich aus dem Nichts hatten Zehntausende Bauarbeiter nach dem kreuzförmigen Leitplan Lúcio Costas in knapp vier Jahren die futuristisch anmutende Metropole errichtet.

Entlang der repräsentativen Längsachse finden sich - allesamt von Niemeyer entworfen - die kronenförmige Kathedrale, die massiven Ministeriumsblöcke, das Kongressgebäude mit zwei eleganten Schalenkuppeln sowie ein Justiz- und zwei Präsidentenpaläste. Auf der gebogenen Querachse, die an die Flügel eines Flugzeugs erinnert, entstanden die Wohngebiete für die Beamten.

Brasilia war auch eine soziale Utopie: "Während des Baus dachten wir, dass die Gesellschaft besser würde, und die Menschen auch", erinnert sich der Kommunist Niemeyer. "Aber nein, mit der Einweihung der Stadt kamen die Politiker, die Geschäftsleute, die Klassenunterschiede, all das, was man bis heute dort sieht."

Der Bau Brasilias symbolisierte das Bestreben der Führungsschicht, das Riesenland in Besitz zu nehmen. Und er riss ein großes Loch in die Staatskasse. Jahrzehntelange Auslandsverschuldung und Inflation waren die Folge, 1964 putschten die Militärs.

Im Großraum Brasilia schnellte die Einwohnerzahl von 140 000 auf jetzt 2,6 Millionen. Die Armen wurden aus der Stadt verbannt - sie wohnen in weit entfernten Trabantensiedlungen. Politiker und Beamte ziehen sich in ihre schicken Wohnungen zurück - oder sie fliegen über lange Wochenenden zurück in ihre Heimatregionen. Die Einkommensunterschiede in Brasilia sind noch größer als in den anderen Metropolen des Landes.

Das offizielle Brasilien wird am Geburtstag seiner Hauptstadt vor allem sich selbst feiern. Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva betrachtet sich gern als Erben Juscelino Kubitscheks. Die Wirtschaft boomt wieder, und die weltpolitische Bedeutung Brasiliens wächst - ganz ohne Utopien.