Der Künstler und Werbe-Profi Michael Schirner manipuliert Foto-Ikonen und spielt mit der Fantasie und mit dem Bildgedächtnis der Betrachter.

Hamburg. Vertraut und zugleich merkwürdig fremd erscheinen uns diese Fotos, die im Wahrheit keine Fotos sind, sondern ausgeklügelte digitale Kunstwerke. Wir erkennen die Motive, registrieren die Manipulationen und ersetzen schon im nächsten Moment in unserer Vorstellung die Fehlstellen, die uns zunächst irritiert haben. Michael Schirner ist ein Meister des Kopfkinos, ein Virtuose der Imagination. Er arbeitet mit Bildern, die erst in der Vorstellung der Betrachter entstehen. Wie radikal er die Imagination des Ausstellungsbesuchers in sein Konzept mit einbezieht, hat er schon vor 25 Jahren mit seiner Serie "Pictures" bewiesen, bei deren Werken es sich um schwarze Flächen handelt, auf denen mit weißer Schrift die Inhalte berühmter Fotos vermerkt sind: "Albert Einstein streckt die Zunge heraus" zum Beispiel, oder "Marilyn Monroe steht auf dem Subway-Luftschacht".

Bei den grob gerasterten, fotorealistischen digitalen Gemälden seiner neuen Serie "Bye Bye", die die Deichtorhallen jetzt nur für wenige Tage zeigen und die gleichzeitig auch auf Plakatwänden im öffentlichen Raum in Berlin, Düsseldorf, Frankfurt und Hamburg zu sehen sind, geht er anders, aber nicht weniger radikal vor.

Es sind Bilder, die die Blicke unweigerlich auf sich ziehen: Auf dem Foto, mit dem der Associated-Press-Fotograf Joe Rosenthal am 23. Februar 1945 dokumentiert, wie heroische Marineinfanteristen die US-Flagge auf dem höchsten Punkt der japanischen Insel Iwojima hissen, fehlen die Soldaten. Willy Brandts berühmter Warschauer Kniefall vom 7. Dezember 1970 kommt ohne die Hauptperson aus, ebenso wie das Bild, das Lenin am 5. Mai 1920 auf dem Swerdlow-Platz in Moskau zeigt.

Man blickt ins Bad des von Uwe Barschel gemieteten Zimmers 317 im Genfer Hotel Beau Rivage, doch die Wanne ist leer. Leer ist auch der Stahlträger in luftiger Höhe, auf dem Charles C. Ebbets 1932 wagemutige Bauarbeiter, die das New Yorker General Electric Building errichteten, bei der Mittagspause abgelichtet hat.

Wer die großformatigen Werke der Ausstellung betrachtet, hat schnell Vergnügen daran, die "Bildrätsel" zu lösen, und ist überrascht, wie gut das in der Regel gelingt. Denn meistens handelt es sich um Foto-Ikonen, die tief im kollektiven Bildgedächtnis verankert sind. Schirner ist ein renommierter Werbeprofi, er lässt Unsichtbares sichtbar werden, seine perfekten Manipulationen erscheinen real, obwohl es Täuschungen sind.

Aber damit steht er bereits in einer Tradition, denn viele der von ihm benutzten Bilder haben eine Manipulationsgeschichte hinter sich. So ließ Stalin auf dem berühmten Leninfoto von 1920 seine Rivalen Kamenew und Trotzki herausretuschieren und durch fünf Holzstufen ersetzen. Joe Rosenthals berühmtes Iwojima-Foto ist selbst eine Manipulation, da es keinen historischen Moment dokumentiert, sondern nachgestellt wurde, und von Ebbets "Lunch Atop a Skyscraper" gibt es inzwischen zahllose Varianten mit wechselndem Personal.

"Meine Kunst ist nicht mein Werk, sondern ganz allein Ihrs, Sie sind der Schöpfer Ihrer Bilder in Ihrem Kopf. Mich gibt es gar nicht", sagt Michael Schirner den Betrachtern seiner Werke, die irritieren und faszinieren, weil sie Realität imaginär und Imagination real erscheinen lassen.

"Michael Schirner, Bye Bye", Deichtorhallen, Deichtorplatz 1-2, bis 25. April, Di-So 11-18, Do bis 21 Uhr, Katalog 39,90 Euro.