Ihre Weltkarriere begann vor fast 60 Jahren in der Laeiszhalle. Joachim Mischke traf sie bei Tee und Kuchen auf einen Plausch über Gestern, Heute und Morgen.

Anja Silja ist so pünktlich, dass man eine Uhr nach ihr stellen könnte. Aber nicht mit einer dieser Ego-Bugwellen, wie sie viel Jüngere und weniger Begabte gern mal vor sich herschieben, sondern geradezu unscheinbar auf dem Fahrrad. So war die Sopranistin mit der gusseisernen Stimmkonstitution und der entsprechenden Arbeitsdisziplin wohl immer, so ist sie auch heute noch.

Um ihr an diesem Sonnabend zum 70. Geburtstag zu gratulieren, muss man sich schon auf ein Schlauchboot auf den Ozean begeben und lange suchen. Dort ist sie nämlich, behauptet sie jedenfalls offiziell, wie bei jedem Geburtstag. Kein Tag, den sie allzu sehr mag. Einfach nur ein Datum wie jedes andere. Und Ruhestand ist ein Wort, das Silja nach wie vor nur aus sehr weiter Ferne kennt. Sie singt. Weil sie will. Vor allem aber, weil sie es kann.

"Rentenalter? Da bin ich schon lange drin, aber das stört mich gar nicht." Im letzten Jahr sei sie gerade mal 14 Tage zu Hause gewesen, sagt sie, es klingt kein bisschen erschöpft. Jetzt jedenfalls ist der Hamburger Teil der Familie dran, die Enkelkinder sollen ja auch hin und wieder was von "Großmama" haben. Das Wort "Oma" kann man ihr schenken, auch mit der Bezeichnung "alterslose Veteranin", die mit dem Unterton bewundernden Staunens über sie zu lesen war, mag Silja sich so gar nicht anfreunden.

Gerade erst hat sie in Toulouse fünf ausverkaufte Abende gesungen. Ein Gourmet-Programm aus Schönbergs "Pierrot lunaire" und der "Erwartung", kombiniert mit Poulencs "Voix humaine". Durchgeplant ist sie derzeit bis ins Jahr 2013 - demnächst stehen eine "Candide" an der Berliner und eine Uraufführung an der Wiener Staatsoper an, dann ein "Spieler" in Frankfurt. Anja Silja kann sich aussuchen, wo sie sich rar macht. Das tat sie schon immer, das konnte sie sich leisten wie keine andere in den letzten Jahrzehnten (s. Kurzbiografie).

Schade nur, dass ausgerechnet Hamburg nicht in ihrem Terminkalender steht. Nicht die Staatsoper (einst das Haus, an dem ihr Ex-Mann Christoph von Dohnányi Intendant war), wo man vor einigen Jahren ihre Absage wegen Krankheit bei einer "Karmeliterinnen"-Serie übel nahm. Und auch nicht die Laeiszhalle - dort könnte sie nämlich im Dezember 2011 das 60. Jubiläum ihres Bühnendebüts feiern. Aber bei Konzert- und Opernhäusern ist sie ohnehin komplett unsentimental - das sind nur Adressen, die können noch so gut sein.

Was für sie zählt, sind die Menschen, die sie kennt und schätzt. Deswegen ist und bleibt das Kapitel Bayreuth für Silja auch abgeschlossen. Dort fand sie in Wieland Wagner eine große Liebe ihres Lebens. Dort will sie nie wieder hin, auch der Tod von Wielands Bruder Wolfgang ändert nichts daran. "Außer Wieland hat mich da nie etwas interessiert. Ich bin auch nicht zur Trauerfeier für Wolfgang gegangen, weil ich mir geschworen habe, dieses Haus nie mehr zu betreten. Egal, wer das Sagen hat." Es gibt Wunden in ihrem Herzen, die nicht verheilen.

Andere in ihrer Güte- und Altersklasse vertreiben sich die Zeit nach dem Karrierezenit mit Unterricht für wissenshungrigen Nachwuchs. Sollen sie doch, ist ihre Meinung dazu. "Das will ich nicht, ich bin kein Freund von Meisterklassen. Den Leuten in zwei Wochen irgendetwas beizubringen, daran glaube ich nicht."

Also müssen Jüngere auch weiterhin unbelehrt akzeptieren, dass sie eine Sängerin ist, deren stimmliche Leistungskurve zeitlebens einer Ideallinie aus Können und Charisma folgen konnte. "Ich bin der beste Beweis dafür, dass so etwas möglich ist, wenn man die richtigen Begleiter hat", meint sie. Und: "Ich hab es aus Liebe getan. Wieland stand hinter mir und sagte: Du kannst es. Das war ja nicht irgendjemand. Das war Wieland. Er hat quasi sein Leben dafür eingesetzt, und ich meins. Das ist eine ewige Kombination geblieben." Schonung, nur weil's netter wäre, können Jüngere von ihr nicht erwarten. Klar gibt es viele technisch ganz tolle Sänger - "aber die singen einfach nur. Dass man von jemandem als Person fasziniert ist, gibt's nur ganz selten. Das fehlt wirklich." An diese Stelle passt dann auch gut ihr Kommentar zu den medial gut sichtbaren Karrieren von Stars wie Villazón oder Netrebko: "Die sind so hochgepusht, dass es schwer ist, nicht zu fallen."

Wie sehr der Blick über den lokalen Tellerrand des Kulturangebots die Begeisterungsnotwendigkeit relativiert, zeigte der treffsichere Konter Siljas in unserem Gespräch auf Eppendorfer Obstkuchen-Länge. Auslöser war die Frage: "Verfolgen Sie mit, was hier in Hamburg in Sachen Musik gerade passiert?" Die typische Erwartung wäre jetzt etwas gewesen über die Vorfreude auf die Elbphilharmonie, die vielen spannenden Konzertprogramme, das tolle Angebot an der Staatsoper, irgendetwas diplomatisch Schönes, in der Art. Doch von dem Weltstar kam zurück: "Passiert hier was ...?" Und dann ein kurzes, entwaffnend prustendes Lachen. So war sie wohl immer schon. Das muss man mögen.