Hamburg. Waren es nun Joshua-Bell-Fans, die vorzeitig gegangen sind oder Schönberg-Verächter, die voreilig flohen? Jedenfalls blieben beim Konzert des NDR-Sinfonieorchesters unter Alan Gilbert am Donnerstag in der Laeiszhalle einige Sitze nach der Pause verwaist.

Mit Sicherheit lässt sich nur sagen, dass sie etwas verpasst haben. Obwohl Schönbergs riesige Symphonische Dichtung "Pelleas und Melisande" noch im spätromantischen Gewand daherkommt, hört man schon viel von der Überkomplexität, dem irritierenden Gewühle der Nebenstimmen und von der geistigen Unruhe, die seine Musik so modern machen.

Angefangen vom verzweigten Bläserdickicht der Einleitung über 40 Minuten und unzählige verschlungene Haupt- und Nebenwege bis hin zu dem beinahe lakonischen Finale wurde all dies von Alan Gilbert und dem NDR-Sinfonieorchester souverän, nie bombastisch und doch mit unerhörter Intensität gestaltet.

Wohlfeiler Lorbeer ist damit nicht zu verdienen, der Applaus nach Schönberg war eher höflich. Doch wer diese Musik hört, ahnt, was man eigentlich alles kennen müsste - und doch im Konzertsaal viel zu selten zu hören bekommt -, wenn man musikalisch ganz in der Gegenwart ankommen wollte.

Versteht man Mendelssohns Musik als perfekte Synthese aus romantischem Ausdruck und klassischer Form, so zeigten sich Joshua Bell und Alan Gilbert vor der Pause als deren ideale Interpreten. Druckvoll und doch fein artikuliert, klangvoll und doch differenziert klang das Orchester in Mendelssohns e-Moll-Violinkonzert. Entsprechend maßvoll dosiert setzte auch Bell seine geigerischen Mittel ein - großes Gefühl ohne große Show.

Was für ein Ausnahmegeiger er ist, demonstrierte Joshua Bell dafür in Reinkultur bei seiner Zugabe. Aus der schlichten Melodie des "Yankee Doodle" zauberte er ein Kabinettstück der Geigenspielkunst mit traumwandlerisch sicherer, absolut präziser und klarer Artikulation in jeder Lage, Lautstärke und Geschwindigkeit. Das war große Kunst und große Show.

Weberns naturschwärmerisches Idyll "Im Sommerwind" hatte Gilbert zuvor als zarte Stimmungsstudie gestaltet, mit Klängen, die aus dem Nichts heraus aufzublühen schienen. Das Empfinden ist in diesem Frühwerk Weberns zwar noch ganz und gar romantisch, doch ahnt man in dem eher kleinteiligen Werk bereits den Schöpfer hochkonzentrierter Destillate aus Klang und Stille.