Hamburg. "Ich schreibe derzeit viel. Ich denke, es wird ein postumes Werk werden. Doch auf diese Weise vergeht die Zeit." So berichtet die in Frankreich gerühmte und geschätzte Autorin mehrerer Romane am 11. Juli 1942 ihrem Lektor.

Auf schreckliche Weise sollte Irène Némirovsky recht behalten: Nur zwei Tage später wurde sie von französischen Gendarmen abgeholt, kurz darauf nach Auschwitz deportiert, wo sie einen Monat später starb. Sie, die Jüdin, hatte nicht versucht, sich und ihre Familie in einem anderen Land in Sicherheit zu bringen, aber die beiden Töchter, Denise und Élisabeth, einer Pflegemutter übergeben, die die Mädchen vor den Nazis retten konnte. Im Gepäck der Geschwister versteckt war ein Konvolut von Manuskripten.

Dieser Schatz sollte erst 60 Jahre später gehoben werden: das Fragment eines umfangreichen, auf fünf Teile angelegten Romans. Die ersten beiden Teile hatte Irène Némirovsky fertigstellen können. Sie erschienen 2004 unter dem Titel "Suite française". Mit diesem brillanten Roman, der vom besetzten Frankreich erzählt, wurde die Schriftstellerin im Jahr 2005 auch deutschen Lesern ein Begriff.

Irène Némirovsky wurde 1903 in Kiew als einzige Tochter eines jüdischen Bankiers geboren. Auf der Flucht vor der Russischen Revolution verließ sie mit den Eltern das Land und kam 1919 nach Paris. Dort studierte sie, die von einer französischen Gouvernante erzogen worden war, Literaturwissenschaft und heiratete 1926 den ebenfalls aus Russland stammenden Michel Epstein. Seit ihrer Jugend schrieb sie. Ihr erster Roman "David Golder" erschien 1929 und erzählt die Geschichte vom Zusammenbruch eines jüdischen russischstämmigen Bankiers in Paris. Das Metier kannte die Autorin gut: Ihrem eigenen Vater war es gelungen, in Frankreich zu neuem Reichtum zu kommen und damit seiner Tochter ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen.

Auch die Novelle "Der Ball", 1930 erschienen, scheint einem Impuls aus tiefstem Herzen zu entspringen. Es ist die gnadenlose Darstellung einer herrschsüchtigen, berechnenden, eiskalten Frau - offenbar eine Abrechnung mit der eigenen Mutter. Irène Némirovsky war in den folgenden Jahren äußerst produktiv, sie schrieb Romane, Novellen, Biografisches und Drehbücher.

Irène Némirovsky begegnet, einem Seelenforscher gleich, ihren Figuren mit leidenschaftlicher Neugier, beleuchtet sie von allen Seiten und beschreibt sie mit kühler Präzision. Ihr Blick ist kaum getrübt durch allzu viel Sympathie. Sie zeigt die Nacht- und Schattenseiten des Menschen, Böses und Hinterhältiges, Verdrängtes und Verleugnetes.

Das jetzt im Knaus Verlag erschienene Buch "Irène Némirovsky - Die Biographie" sowie die Uraufführung eines Einakters an der Hamburgischen Staatsoper, dem ihre Novelle "Le Bal" zugrunde liegt, sind Anlass für das Literaturhaus, der Schriftstellerin einen - längst ausverkauften - Abend zu widmen. Dabei wird Jürgen Ritte Leben und Werk der Autorin vorstellen und mit ihrer Tochter Denise Epstein und mit dem Biografen Olivier Philipponnat sprechen. Judith Rosmair liest aus Némirovskys Werken.